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Montag, 29. Oktober 2012

Rationale Irrationalität

Es ist ein alter Grundsatz im Verkauf, den Kunden im Verkaufsgespräch niemals mit Fakten zu überhäufen. Selbst wenn das Produkt tatsächlich fünf Dutzend Vorteile hätte, und der Verkäufer selbst sich nicht vorstellen kann, wie ihm zu widerstehen sein sollte, muß er sich bescheiden. Der Kunde WILL nur ein oder zwei Argumente, die ihn eben interessieren, maximal ein drittes, als kleiner Zusatz oder "Trigger" - "... und dann schenke ich Ihnen noch die Fußmatten dazu." Manchmal kauft der Kunde sogar NUR diese Matten, nicht das Auto, diese Aussage ist nicht übertrieben. (Und zwar interessanterweise: je höher die Summe ist, um die es geht. Bei kleinen Artikeln werden "goodies" sogar oft als lästig empfunden.)

Warum das so ist? Ratio zwingt! Wenn dem Kunden rational keine andere Wahl mehr bleibt, fehlt das entscheidende an einem Kauf - die Entscheidung. Er "muß" das Produkt kaufen. Und jeder kennt den Unterschied, ob man eine Stereoanlage kaufen "muß", weil die alte gestern den Geist aufgab, oder wenn man ein neues Modell sieht, von dem man sich Lebenssteigerung erwartet.

Lebenssteigerung - im freien Entschluß steigert sich das Selbst eines Menschen "zu sich selbst", Lebensfreude steigt auf, er vollzieht sie in der Zustimmung. Das ist selbst im Genießen eines Kunstwerks nicht anders.*

Deshalb auch das zweite erwähnte Faktum: Speziell große Kaufbeträge übersteigen die Vorstellungskraft eines Menschen sehr rasch, was mit dem abstrakten Wesen des Geldes zu tun hat - es ist IN SICH nicht vorstellbar, es ist eine rein mathematische Vergleichsgröße, die ihre Begrifflichkeit bestenfalls über mehrere Ecken etwas verbessern kann (z. B. über vorgestellte Arbeitsmühen, um diesen Betrag zu verdienen). Der Käufer muß aber GLAUBEN, daß im letzten seine Entscheidung rational ist. Weil sie es wäre, wenn er alles prüfen würde. Auch, wenn er selber diese Rationalität nicht hat oder die Information verarbeiten kann.**

Entscheidungen selbst aber werden niemals "rational" gefällt. Sie sind überfließende Haltung, Lebensvollzug.

Wie aber steht das überein mit einem Grundsatz der Propaganda: daß der Empfänger der Propaganda (fallweise) mit Informationen überschüttet werden muß? Nun: weil auch die Propaganda mehrere Anspruchsebenen kennt, die im Zusammenwirken erst ihre volle Wirkung ausmacht.

Wenn Chruschtschow drei Stunden lang im Obersten Sowjet Produktionszahlen vorlas, und das auch  noch im Fernsehen übertragen wurde, so rechnet niemand damit, daß das Publikum diese Informationen verarbeitet. Es gibt ausreichende Untersuchungen die belegen, daß das Überschwemmen von Menschen mit Information sie regelrecht betäubt. Sie hören irgendwann nicht  mehr zu. Informationsoverkill hat aber eine ganz andere Wirkung: sie vermittelt einen "Gesamteindruck". Sie vermittelt den Eindruck, daß hinter diesem oder jenem Wahlgegenstand viele Fakten stehen, die eine emotionale Hinneigung zu ihm "rational machen", verantwortungsbewußt sein lassen.

Deshalb braucht Propaganda auch diese Ebene: die des Gesamteindrucks. Und die basiert auf FAKTEN, auf reinen Informationen. Auf dieser Ebene aber wird der konkrete Einzelentschluß vorbereitet, hier wird das Vertrauen in die Ratinalität des Angebots geschaffen.

Die Einzelentscheidung selbst wiederum braucht Emotionalität. Denn nur aus Gefühl heraus handelt der Mensch, nur darin liegt der Treibsatz seiner Bewegung.

Wer also im Internet meint, über Fakten überzeugen zu können, irrt grundsätzlich. Niemand kann viele Informationen auf einen Haufen verarbeiten, niemand sucht die Information um ihrer selbst. Wer im Internet VIEL Information anbietet, will nur einen emotionalen Eindruck erwecken: etwas zu bieten zu haben, was ist im Grunde nebensächlich. Aber DAS rechtfertigt im Fall des Wählens auch die immer irrationale Entscheidung als Evokation von Lebensfreude.




* Weshalb die zunehmende Kinotechnik - als Beispiel - einem kapitalen Fehlschluß unterliegt. Die Kunden kommen nicht weniger ins Kino, weil die Technik zu rückständig ist, sondern weil sie ihnen das Entscheidende am Filmgenuß mehr und mehr abnimmt: die Vorstellungskraft, die Phantasie, das "Selbstausmalen", die erst der eigentliche Akt des Genießens ist. Die Kinotechnik heute spielt nur noch mit der Verblüffung, und dieser Effekt vergeht rasch, weil man sich daran gewöhnt - das Kino bringt sich also selbst um.

**Weshalb das Forschungslabor eines Unternehmens am besten gleich beim Eingang durch das erste Hinweisschild angekündigt wird.




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