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Freitag, 5. Oktober 2012

Spitze des Werks

Jede Rede, jedes Schreiben, das sich ja auf die Rede bezieht, muß auf einen "common place" abzielen - auf jene Gemeinplätze, in denen im Gedächtnis der Menschen Wahrheit und Wahrheiten, Erfahrungswissen, wirklich Gewußtes vorhanden ist. Der gemeinsame Schatz an solchen Gemeinplätzen macht den eigentlichen Grund einer "gemeinsamen Kultur" aus, er ist etwas wie ihr Maß.

Das zeigt die Bedeutung der Erzählung für Kinder, nicht nur für sie, denn in diesen Gemeinplätzen finden sich auch ihre alltäglichen Gefühle und Erfahrungen wieder, gerade in aller rationalen Ambivalenz, die das Leben eben überhaupt hat.

Und es zeigt die Grundlage von Schreibgesetzen, wie jenem, daß jedes Werklein einen Gemeinplatz haben muß, unter den es subsumiert werden kann. Jedes, ausnahmslos jedes gute Werk hat einen solchen Generalnenner, ob bewußt oder unbewußt, der es in allen Verästelungen durchdringt und ihm jenen Geschmack gibt, der vom Ganzen eines Werkes ausgeht. Erst unter Bezug auf dieses Zentrum wird auch das Detail sinnvoll weil Teil eines Ganzen. 

Produkte, die das nicht haben, sind zum einen gar keine Werke - denn Ganzheit, die ja erst beurteilen läßt, was dazugehört, was nicht - und verwirren auch das Publikum. Von jenen Werken, die bewußt diese Verwirrung stiften sollen, meistens um ihre Zentralaussage zu verschleiern oder zu verwischen, die man fürchtet, warum auch immer, gar nicht zu reden.

(Daran dachte der Verfasser dieser Zeilen unlängst, als er Zeuge einer wahrlich sinnlosen Theaterproduktion wurde, die in den Zeitungen aus bestimmten Gründen, die hier nicht Gegenstand sein sollen, "wohlmeinend" kommentiert wurde indem man schrieb: es bliebe zwar Ratlosigkeit am Schluß, aber es seien "viele Anregungen" enthalten. Mit denen man den einen oder anderen Satz meinte, der "Aussage" enthalte. Eine verlogene Umschreibung des Wissens, daß dem Stück das Ganze fehlte, es also als Werk wertlos war.)

Gleichzeitig werden rational durchstrukturierte Werke, die bewußt auf eine solche Zentralaussage hin konstruiert werden, zu erkennbaren Machwerken. Man spürt als Konsument, daß dem Stück das innere Leben fehlt. Denn wie in jedem lebendigen Organismus, ist das Ganze nicht sie Summe aller Teile, sondern ein alles erfüllender und hervorbringender, integrierender Geist. Hier entscheidet es sich auch, ob ein Werk "Idee" hat, oder nur "Einfälle", auf die schöpferisches Wirken irreführend oft reduziert wird.

Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, daß der Produzent diese Pfeilspitze fühlt. Ohne zu behaupten, daß ein Werk genau das, eine scheinbare Ratlosigkeit, zeigen könne. Denn die einende Idee muß dem Verfertiger selber nicht bewußt sein. Ja zum Gegenteil, ist es eine der erstaunlichsten Werkerfahrungen zu sehen, daß im Fortschritt alles "heimlich und leise" auf ein Zentrum zuläuft. Man muß nur fühlen, daß etwas geboren werden will, und man fühlt, wann es (mehr oder weniger) "fertig" ist. Was es selber ist, stellt man oft nur mit höchstem Staunen fest.

So sehr - und es sei darauf hingewiesen - gerade die bewußte Verweigerung dieser Ordnung Ausdruck (wie in der Postmoderne) sein kann. Aber genau darin ist wieder Aussage: der Sinnlosigkeit der Welt. Insofern aber alles andere als neu. (Der Verfasser erinnert sich an eine Diskussion in einem Seminar an der Universität zu Jakob Michael Reinhold LENZ' "Der Hausmeister", wo die Peripetie ... in einem plötzlichen und "sinnlosen" Lottogewinn stattfindet. Lenz wußte ganz genau, was er da tat: Eine sinnlose Welt kann nur über im Zufall verlaufen. Die Dinge der Welt - die Handlung des Stücks ist bis dahin exakt gebaut - enden nicht nach ihrer Logik. Übrigens hat so gut wie niemand der Studenten das zu erkennen vermocht, ihnen blieb es vorerst einfach sinnlos. Sie hätten also auch so ein Stück nicht zu verfassen vermocht, weil diese Sinnlosigkeit genau den Hintergrund des Sinns braucht.)

Deshalb ist es völlig logisch, daß eine Zeit, in der Sinnlosigkeit herrscht, und sei es, daß sie proklamiert wird, also "sein soll", auch eine Urheber-Diskussion lostritt. Für das Sinnlose gibt es keinen Urheber, der Zufall ist von jedem lieferbar. Das Humane ist eben - der Sinn! Und jeder Zuschauer, jeder Konsument beweist es immer wieder aufs Neue: er SUCHT Sinn! Nur so kann er das Wahrgenommene in jene Einheit eingliedern, aus der alleine er überhaupt leben kann. Niemand kann ohne Zentrum leben, sein Handeln wäre völlig inkonsistent, und er würde in Unruhe zergehen! Jeder lebt aus einem einzigen Zentrum heraus, und das sucht er, lebenslang und in allem, was ihm begegnet.

So bleibt Kunstproduktion immer eine Sache der persönlichen Entwicklung, denn in ihr erst sammelt sich ein Mensch in jener Einheit, die Werke überhaupt gebären kann.



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