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Sonntag, 14. Oktober 2012

In der Wiedervereinigung vorweggenommen

Viele Aspekte der deutschen Wiedervereinigung von 1990 wurden und werden hinlänglich diskutiert. Einen Aspekt aber übersieht man gemeiniglich. Denn er wirft auf vieles ein völlig anderes Bild. Er reißt die "Westdeutschen" aus ihren Regentenstühlen und Zuschauerfauteuils, und läßt ihre Selbstzufriedenheit und Arroganz ins Leere stürzen - deren Entstehen selbst sich aus den wirklichen Fakten ergibt. Denn nicht der wird arrogant, der sich seiner Tagen sicher ist, sondern der, der es eben nicht ist. Der sie deshalb aufbauschen muß, um sie nicht im Interagieren mit der Wirklichkeit zu verlieren.

Es ist der Aspekt des Geldes. Nein, hier soll keine Ehrenrettung des kommunistischen Systems versucht werden, das wäre lächerlich. Auch darüber ist - auch hier - alles gesagt. Aber wenn sich in diesen Tagen alle Augen auf Athen richten, auf Lissabon und Madrid, auf Laibach und auf Dublin, so sehen sie dort, was sie im eigenen Land nicht sahen. Denn rein ökonomisch ist dort wie hier dasselbe passiert.

Eine Volkswirtschaft, als in sich (relativ) stabildes Gebilde, hat eine gewisse Kaufparität, eine gewisse Produkvität, einen gewissen Sättigungsgrad mit menschlichem Selbstvollzug als Arbeit, der hinter dem steckt, was sie als Geld bezeichnet. Das macht den Wert dieses Geldes im Außenverkehr aus. Und findet sich in den Wechselkursen wieder.

Wie in Griechenland, so in der DDR, ist aber dasselbe passiert: der reiche Onkel kam, und schüttete das Füllhorn aus, überschwemmte das Land mit Geld, das fast zur Gänze in den Konsum floß. Aber nicht einmal für Investitionen verwendet, als Geschenk gewissermaßen, hätte es sich segensreich entwickeln können. Wenn es nämlich eines dabei zerstört: das interne Gefüge aus Löhnen, Preisen und Produktionswerten.

Die Produktivität war in beiden (bzw. diesen) Ländern, verglichen mit Deutschland, Österreich, Frankreich etc., deutlich niedriger. Im interationalen Vergleich hat die DDR nur im Osten wirklich Exportmärkte vorgefunden, nur mit wenigen Produkten war sie auch im Westen konkurrenzfähig. Die DDR hatte im Vergleich der gesamten kommunistischen Länder aber die höchste Produktivität. Hatte diesen Ländern gegenüber also eine ähnliche Position, wie der Westen zu ihr. Seine Exporte in diese Ländern waren also in Wahrheit vor allem nach der UdSSR, die noch dazu Zwangscharakter hatten, wirkten sich die auf die Binnenwirtschaft der "Ostbundesländer" wie Abschöpfungen an Produktivität aus. Die DDR hat - unter dem Joch der Kriegsschuld - Werte in die übrigen Ostblockänder gepumpt. Was zu ihrem zuletzt ämmerlichen Zustand nicht unwesentlich beigetragen hat. Damit aber trug sie groteskerweise sehr effizient zum Zusammenbruch des Ostens bei ...

Mit dem Zwangsumtausch von 3 : 1 - 3 alte Ostmark, gegen eine Westmark - der von der Politik rein aus populistischen Gründen festgelegt wurde, sowie mit der Einführung westlicher Lohn- und Kostenstandards, passierte aber nun Folgendes: Die Währung, die nun in der DDR kursierte, wurde UMS DREIFACHE aufgewertet. Mit einem Schlag verteuerten sich die Exportwaren so erheblich, daß der gesamte Export mit einem Schlag zusammenbrach. Damit brachen auch die meisten Unternehmen in der DDR zusammen. Man kann über deren Qualität streiten, keine Frage, die meisten waren nach westlichem Maßstab ein Konkursfall, aber sie wären zum einen oft sanierbar gewesen, und zum anderen gab es in der DDR sehr wohl etwas wie ein freies und den Umständen entsprechend eingeschränktes, aber relativ florierendes Unternehmertum, das sich freilich auf Klein- und Kleinstunternehmen beschränkte, als Mittelschicht sozusagen.

"Wir hatten ja Geld," war im Anschluß oft zu hören, sprach man mit ehemaligen DDR-Bürgern. Ja, gewiß, aber dieses Geld war weitgehend wertlos. Es war nie verdient. Man verschwieg es aber, aus discretio. Eine DDR-Bürgerin, die offen und ehrlich genug war zu sagen, daß sie sich aus Gründen der Lebensqualität die alte DDR zurückwünsche, hat dem Verfasser dieser Zeilen erst vor wenigen Jahren offen eingestanden: Wir hatten keine Arbeit. Wir hatten eine Art Beschäftigungstherapie, deren ökonomische Sinnlosigkeit offen zuzugeben Landesverrat und Defätismus gewesen wäre, mit schlimmen Folgen. Also gewöhnte man sich daran, das stillschweigend zur Kenntnis zu nehmen, dem System zu geben, was es verlangte. Und nach der "Arbeit" mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen - in den kleinen Gärten hinter dem Haus, im Pfusch beim Hausbau um die Ecke, in den offenen Gesprächen in der Datscha, in der Parallelgesellschaft, in der wir alle erst eigentlich gelebt haben. Mit dem System haben wir einfach zu leben gelernt.

Während der Westen wie der reiche Onkel mit Spendierhosen auftrat, wurde der lokalen Wirtschaft - die auch in der Schattenwirtschaft ihre Vitalität hatte, die man sehr wohl aus dem Schatten herausholen hätte können, ja müssen - aber jeder Boden entzogen, um sich selbst an die veränderten Bedingungen (langsam, denn das geht nur langsam) anzupassen. Gleichzeitig mit den enormen Schulden Westdeutschlands, denn das Geld hatte es ja gar nicht, das sie hier mit Lastwagen nach dem Osten karrte, wurde die Vitalkraft der Menschen im Osten selbst regelrecht niedergetreten. Aus den blühenden Landschaften wurden entvölkerte, wüste Gebiete, aus wie auch immer bestehenden lokalen Wirtschaftsgefügen wurden Ruinen, in denen nichts mehr wachsen konnte. Statt Stolz auf die individuelle Schaffenskraft wurde das Gefühl, Almosenempfänger zu sein, auch weil auf beiden Seiten die Warheit über das Geschehen gar nie eingestanden wurde. Der Verfasser dieser Zeilen hat, während seines längeren Aufenthalts in Berlin 1997, schrecklichste Szenen einer "westlichen" Arroganz beobachtet, die zu beschreiben sich der Feder widersetzt.

Weder war der Westen der "Gute" - so, wie die österreichischen Banken jene Milliarden, die sie als "Ostphantasie" diesen Absatzmärkten selbst geliehen hatten, womit diese "Nachfrage" in österreichischen Unternehmen auslösten, vielfach abschreiben mußten, sodaß der österreichische Steuerzahler das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre praktisch aus eigener Tasche bezahlen muß, sich selbst geliehen und vorgegaukelt hat, sozusagen - noch war die DDR eine Wüste. Aber man ist mit einer Planierraupe über dieses Land gefahren, dessen menschliches Potential niemanden interessiert hat. Die man mit Konsumschecks und Begrüßungsgeldern einfach verwirrt und mundtot gemacht hat. Denn damit hat man zwar Scheinkonjunktur geschaffen, von der westliche Unternehmen profitierten, denn sie waren es die die nun gekauften Waren lieferten (noch heute will kaum ein "Ossie" tradtionelle, schon oder noch in der DDR produzierte Ware kaufen, ihr haftet der Nimbus des Schlechten an) aber damit hat man die Geldmenge im Land um das Dreifache aufgepumpt, ohne daß die Produktivität nachziehen hätten können. Der Totalzusammenbruch war also nicht einfach  nur "riskiert", er war gezielt herbeigeführt. Weil die Politik sich andere Ziele sah, in die sie sich verstiegen hatte. Weil - oh, man kennt die Pappenheimer! - sich so mancher Politiker schon in den Geschichtsbüchern der kommenden Generationen verweigt sah: als großer Motor historischer Veränderungen.

Aber die Minderversorgung mit Gütern war nie das Problem der DDR. Im Gegenteil, auf diesem Boden einer gewissen Bescheidenheit, hatte sich noch wirkliche, lebendige Kultur erhalten. Wie im gesamten Osten aber, wie man erschüttert zur Kenntnis nehmen muß, wurde der Lebensprozeß auf eine Geldwirtschaft reduziert, in der die Menschen selbst oft genug glauben, daß genau das, was den Westen längst unsanierbar gemacht hat, das Wesen der Freiheit sei: möglichst viel, zu möglichst wenig Aufwand der Welt "herauszureißen."

In Griechenland ist nichts anderes passiert, mit sehr ähnlichen, wenn auch durch auch vorher bestehenden Verflechtungen in die internationalen Märkte etwas milderen Folgen. Hunderte Milliarden sind in dieses Land geflossen, in Eiltempo sind die Löhne und Kosten nach oben gerast, und mit noch mehr Aufwand und Bürokratie wurde versucht, den negativen Folgen zu wehren, noch mehr Geld und staatliche Eingriffe sollten die Reaktionen der lokalen Märkte verpuffen lassen. Aber man hat damit die Vitalkraft der lokalen Organismen zerstört, und es wird Jahrzehnte dauern, bis sie sich wieder  - auf ihre lokales Niveau, auf das Niveau des Lebensvollzugs der Menschen, das nur der Ehrgeiz der Politik, die Geld braucht, immer mehr Geld braucht, eingefunden hat. Was erst der Fall sein wird, NACHDEM Griechenland sich aus diesen übergreifenden Mechanismen befreit haben wird. Was Blut und Tränen kosten wird, aber alternativlos ist.

Was der Frage der DDR neue Brisanz verleiht. Natürlich war das Regime weder wünschenswert noch überlebensfähig, war konkurs, wie Egon Krenz es damals in seiner legendären Rede eingestand. Natürlich gab es eine Demoralisierung, die noch Generationen wirkt, die in ihren Charaktererusionen absolut ident (!) mit jenen ist, die wir in unseren Landen durch unsere Sozialstaaten noch zu verkraften haben werden, und uns selbst nur verbergen.

Doch das wirkliche Leben hat sich auch in der DDR, unter der Oberfläche, seine Wege gesucht, fand statt, in einer Parallelgesellschaft, deren Bedrohung als "Leben an sich" eine der bemerkenswertesten Geschichten der Paranoia in der Weltgeschichte evoziert hat. Den Prozeß des völligen Ausblutens, des Abfließens von Vitalkraft, kann aber noch so viel Geld nicht rückgängig machen, und schon gar nicht beheben. Das kann nur lokal entstehen, nur lokal aufbauen, sofern es noch - lokal, singulär - besteht. Aus dem Willen der Menschen, ihr Leben zu gestalten, und vor Ort zu leben und ihre Möglichkeiten zu sehen wie zu verwirklichen. Es bleibt zu befürchten, daß das einen gewissen Nullpunkt für das Chaos, das eine überhebliche, arrogante und ignorante Westpolitik dort angerichtet hat, in dem sämtliche lokalen Organismen ausgerottet wurden, unverzichtbar braucht. Und daß dieser wahre Nullpunkt der deutschen Wiedervereinigung ... erst bevorsteht.

So, wie auch uns in Österreich der Nullpunkt noch bevorsteht. So sehr wir uns mit Händen und Füßen gegen die Wahrhaftigkeit sträuben, und dem Schein wieder und wieder Leben einhauchen wollen.




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