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Dienstag, 27. Februar 2018

Die große Enttäuschung des Ostblocks (2)

Plötzlich war man ein Anachronismus

Das Bemerkenswerte war dabei, daß die Gewerkschaftsbewegung Polens, die letztlich ja den Umsturz des Kommunismus bewirkt hatte, von Menschen und Strömungen "der Vergangenheit" geprägt war. Da wollte man keinen "neuen Menschen", vielmehr "den alten". Es waren Priester, Kirchgänger, Patrioten, Männer und Frauen, die sich auf Tradition und europäische Kultur beriefen, die diese Bewegung ausmachten. Alle diese Menschen, die doch das System zur Freiheit des Westens hin gekippt hatten, erlebten sich nach 1989 in einer grotesken Situation: Sie erlebten sich als Anachronismus! Entweder ließen sie sich ebenso "neu" umformen, oder sie würden im Müllkorb der Geschichte landen. Wobei es ihnen damit erging wie großen Teilen des Westens auch, wo sich dasselbe abspielte.

Legutkos Analysen konzentrierten sich zunehmend darauf, daß es hierfür Gründe geben mußte. Und diese Gründe dürften im Westen wie im Osten erstaunlich ähnlich sein. Es schien also Parallelen zwischen dem Kommunismus und der liberalen Demokratie des Westens zu geben.  Bis er zu einem Merkmal kam, das in beiden Systemen auffiel: In beiden Systemen war das politische System so dominant, daß es bis in sämtliche Institutionen und gesellschaftliche Bereiche, vor allem bis in jeden menschlichen Verstand vorgedrungen war. Genau so, wie der Kommunismus reklamiert hatte, der ultimative Interpretationshorizont für alles zu sein, was den Menschen betraf, hatte die liberale Demokratie des Westens begonnen, exakt dieselbe Relevanz für alles, was den Menschen betraf, zu behaupten.

Im Kommunismus hatte man behauptet, daß alles, jeder Bereich, egal wo, "sozialistisch" geprägt sein müsse. Es gab keine Familie mehr, sondern eine "sozialistische Familie", keine Gesellschaft, sondern nur noch eine "sozialistische Gesellschaft". In der liberalen Demokratie hatte sich etabliert, daß man dasselbe vom liberalen Demokratismus behauptete. Nur die Attribute wechselten. Familien, Schulen, Religionsgemeinschaften - alles mußte liberal und demokratisch werden. Sowohl in der Lehre wie in der Praxis. Das galt sogar für Gott. Gott gab es im Kommunismus zwar nicht, aber wenn, dann war er dort ein "guter Kommunist".

Der Schluß lag also nahe davon auszugehen, daß es in beiden Systemen eine immanente Tendenz geben mußte, sämtliche Lebensbereiche, ja jeden Aspekt des Lebens und Teilbereich der Gesellschaft, ja alles Denken und Fühlen der Menschen mit politischer Bedeutung aufzuladen. Beide Systeme halten das für essentiell. Und sie tun es, weil beide es für notwendig (und sich für die Durchführung verantwortlich und auserwählt) halten, um die gesamte Menschheit zu Glück und Erfüllung zu bringen. Beide Systeme sind davon überzeugt, daß DAS die Richtung ist, in die die Welt geht und zu gehen hat. 

Also haben sich in beiden Systemen Parallelgesellschaften entwickelt, in denen sich die Menschen einen Ausweg von diesem Zentralzugriff erhofften. Familie, Privates, Schönheit, Erinnerung, Religion, Kunst ... eine andere Welt. Also mußte das System auch danach greifen. Man tat es von zwei Seiten her: Zuerst einmal schuf man Gesetzeslagen, die bestehende Bindungen auflösten. Scheidung war immer mehr erleichtert, Abtreibung allgemein und erlaubt, Junge wurden gegen Alte gestellt, indem man alle Autoritäten auflöste, nicht zuletzt Frauen emanzipierte und mit staatlichen Mitteln unabhängig gemacht. Aber selbst das reichte nicht aus, es gab nach wie vor separierte Bereiche, in die die Menschen flüchteten.

Also mußte über allem als Kriterium "correctness" eingeführt werden: Nichts, und zwar wirklich nichts durfte noch dem großen Gesamtsystem widersprechen. Alles, wirklich alles mußte mit den großen Zielen kompatibel sein. Jeder Mensch mußte dazu gebracht werden zu beweisen, daß er nicht dem System widersprach, daß er bis in jedes Eckchen seines Lebens vereinbar war. 

Im Osten hatte man dafür ein immer extremeres Denunzianten- und Spitzelwesen aufgebaut, das alles und jeden - durch  jeden - kontrollieren sollte. Im Westen sollte man sich nun aber einmal die Frage stellen, wie stark und widerstandsfähig hier noch solche Inseln des Privatimen sind, in denen Freiheit möglich, die Politik mit ihren Forderungen noch nicht präsent ist. Ob nicht die liberale Demokratie bereits auch in alle diese Bereiche ihre Fesselseile ausgestreckt hat. 

Kontrollkriterien der Freiheit von Politischer Doktrine

Wie stark ist denn hier noch die "Privatsphäre"? Wie mächtig sind Familiengrenzen noch gegenüber den Zugriffen der Politik? Ist unser Privatleben geschützter, abgesicherter als vor 30, 40 oder 50 Jahren? Wie weit ist unser privates Reden, Denken, die Gespräche mit Bekannten und Verwandten nicht schon geprägt von politischem Kontext? Sind wir heute mehr oder weniger als früher darein verwickelt? Oder finden wir nicht schon bis in die tiefste Familie hinein Worte wie "Macht", "Gleichheit", "Gleichberechtigung", Genderfragen, Unterdrückung oder gar die Gesetze als maßgebend und regulativ für unsere privaten Bereiche? Nahm das zu, oder nahm es ab? Oder wie sieht es mit der Sexualität, dem "Sex" aus? Ist das mehr oder weniger von Gesetzen und öffentlichen Regeln bestimmt? Oder wie steht es um die Religion, die Kunst, die Literatur - ist das heute mehr oder weniger gegen politischen Zugriff und Einmischung gesichert? Oder haben sich nicht in allen diesen Bereichen die Politik, die Ideologie, die Ideen der liberalen Demokratie verankert?

Oder man nehme die Sprache. Ist heute die Sprache frei von politischer Intervention? Oder hat diese nicht längst darauf Zugriff genommen? Wird die Sprache nicht längst politisch kontrolliert? Kann man wirklich noch ein Buch veröffentlichen, das gegen die politische Doktrine steht? Dabei ist Sprache doch extrem wichtig für die Heranbildung eines wahrheits-, wirklichkeitsgerechten Weltbildes. Wer die Welt nicht adäquat benennen kann, kann sie nicht bewältigen, dem bleibt sie fremd, und schon darin verliert er seine Freiheit, weil er Handlungsmacht verliert, weil sich Erfahrung nicht mehr adäquat erfassen läßt. 

Ein weiteres Kriterium ist, wie sich die liberale Demokratie gegenüber Ideen die ihr widersprechen - Monarchismus, Hierarchie, Atheismus, Religion und Glaube - verhält. Kaum kann man behaupten, daß sie sich neutral verhält. 



Morgen Teil 3)




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