Plötzlich war man ein Anachronismus
Das
Bemerkenswerte war dabei, daß die Gewerkschaftsbewegung Polens, die
letztlich ja den Umsturz des Kommunismus bewirkt hatte, von Menschen und
Strömungen "der Vergangenheit" geprägt war. Da wollte man keinen "neuen
Menschen", vielmehr "den alten". Es waren Priester, Kirchgänger,
Patrioten, Männer und Frauen, die sich auf Tradition und europäische
Kultur beriefen, die diese Bewegung ausmachten. Alle diese Menschen, die
doch das System zur Freiheit des Westens hin gekippt hatten, erlebten
sich nach 1989 in einer grotesken Situation: Sie erlebten sich als
Anachronismus! Entweder ließen sie sich ebenso "neu" umformen, oder sie
würden im Müllkorb der Geschichte landen. Wobei es ihnen damit erging
wie großen Teilen des Westens auch, wo sich dasselbe abspielte.
Legutkos
Analysen konzentrierten sich zunehmend darauf, daß es hierfür Gründe
geben mußte. Und diese Gründe dürften im Westen wie im Osten erstaunlich
ähnlich sein. Es schien also Parallelen zwischen dem Kommunismus und
der liberalen Demokratie des Westens zu geben. Bis er zu einem Merkmal
kam, das in beiden Systemen auffiel: In beiden Systemen war das
politische System so dominant, daß es bis in sämtliche Institutionen und
gesellschaftliche Bereiche, vor allem bis in jeden menschlichen
Verstand vorgedrungen war. Genau so, wie der Kommunismus reklamiert
hatte, der ultimative Interpretationshorizont für alles zu sein, was den
Menschen betraf, hatte die liberale Demokratie des Westens begonnen,
exakt dieselbe Relevanz für alles, was den Menschen betraf, zu
behaupten.
Im
Kommunismus hatte man behauptet, daß alles, jeder Bereich, egal wo,
"sozialistisch" geprägt sein müsse. Es gab keine Familie mehr, sondern
eine "sozialistische Familie", keine Gesellschaft, sondern nur noch eine
"sozialistische Gesellschaft". In der liberalen Demokratie hatte sich
etabliert, daß man dasselbe vom liberalen Demokratismus behauptete. Nur
die Attribute wechselten. Familien, Schulen, Religionsgemeinschaften -
alles mußte liberal und demokratisch werden. Sowohl in der Lehre wie in
der Praxis. Das galt sogar für Gott. Gott gab es im Kommunismus zwar
nicht, aber wenn, dann war er dort ein "guter Kommunist".
Der
Schluß lag also nahe davon auszugehen, daß es in beiden Systemen eine
immanente Tendenz geben mußte, sämtliche Lebensbereiche, ja jeden Aspekt
des Lebens und Teilbereich der Gesellschaft, ja alles Denken und Fühlen
der Menschen mit politischer Bedeutung aufzuladen. Beide Systeme halten
das für essentiell. Und sie tun es, weil beide es für notwendig (und
sich für die Durchführung verantwortlich und auserwählt) halten, um die
gesamte Menschheit zu Glück und Erfüllung zu bringen. Beide Systeme
sind davon überzeugt, daß DAS die Richtung ist, in die die Welt geht und
zu gehen hat.
Also
haben sich in beiden Systemen Parallelgesellschaften entwickelt, in
denen sich die Menschen einen Ausweg von diesem Zentralzugriff erhofften.
Familie, Privates, Schönheit, Erinnerung, Religion, Kunst ... eine
andere Welt. Also mußte das System auch danach greifen. Man tat es von
zwei Seiten her: Zuerst einmal schuf man Gesetzeslagen, die bestehende
Bindungen auflösten. Scheidung war immer mehr erleichtert, Abtreibung
allgemein und erlaubt, Junge wurden gegen Alte gestellt, indem man alle
Autoritäten auflöste, nicht zuletzt Frauen emanzipierte und mit
staatlichen Mitteln unabhängig gemacht. Aber selbst das reichte nicht
aus, es gab nach wie vor separierte Bereiche, in die die Menschen
flüchteten.
Also mußte über allem als Kriterium "correctness"
eingeführt werden: Nichts, und zwar wirklich nichts durfte noch dem
großen Gesamtsystem widersprechen. Alles, wirklich alles mußte mit den
großen Zielen kompatibel sein. Jeder Mensch mußte dazu gebracht werden
zu beweisen, daß er nicht dem System widersprach, daß er bis in jedes
Eckchen seines Lebens vereinbar war.
Im
Osten hatte man dafür ein immer extremeres Denunzianten- und
Spitzelwesen aufgebaut, das alles und jeden - durch jeden -
kontrollieren sollte. Im Westen sollte man sich nun aber einmal die
Frage stellen, wie stark und widerstandsfähig hier noch solche Inseln
des Privatimen sind, in denen Freiheit möglich, die Politik mit ihren
Forderungen noch nicht präsent ist. Ob nicht die liberale Demokratie
bereits auch in alle diese Bereiche ihre Fesselseile ausgestreckt hat.
Kontrollkriterien der Freiheit von Politischer Doktrine
Wie
stark ist denn hier noch die "Privatsphäre"? Wie mächtig sind
Familiengrenzen noch gegenüber den Zugriffen der Politik? Ist unser
Privatleben geschützter, abgesicherter als vor 30, 40 oder 50 Jahren?
Wie weit ist unser privates Reden, Denken, die Gespräche mit Bekannten
und Verwandten nicht schon geprägt von politischem Kontext? Sind wir
heute mehr oder weniger als früher darein verwickelt? Oder finden wir
nicht schon bis in die tiefste Familie hinein Worte wie "Macht",
"Gleichheit", "Gleichberechtigung", Genderfragen, Unterdrückung oder gar
die Gesetze als maßgebend und regulativ für unsere privaten Bereiche?
Nahm das zu, oder nahm es ab? Oder wie sieht es mit der Sexualität, dem
"Sex" aus? Ist das mehr oder weniger von Gesetzen und öffentlichen
Regeln bestimmt? Oder wie steht es um die Religion, die Kunst, die
Literatur - ist das heute mehr oder weniger gegen politischen Zugriff
und Einmischung gesichert? Oder haben sich nicht in allen diesen
Bereichen die Politik, die Ideologie, die Ideen der liberalen Demokratie
verankert?
Oder
man nehme die Sprache. Ist heute die Sprache frei von politischer
Intervention? Oder hat diese nicht längst darauf Zugriff genommen? Wird
die Sprache nicht längst politisch kontrolliert? Kann man wirklich noch
ein Buch veröffentlichen, das gegen die politische Doktrine steht? Dabei
ist Sprache doch extrem wichtig für die Heranbildung eines wahrheits-,
wirklichkeitsgerechten Weltbildes. Wer die Welt nicht adäquat benennen
kann, kann sie nicht bewältigen, dem bleibt sie fremd, und schon darin
verliert er seine Freiheit, weil er Handlungsmacht verliert, weil sich
Erfahrung nicht mehr adäquat erfassen läßt.
Ein
weiteres Kriterium ist, wie sich die liberale Demokratie gegenüber
Ideen die ihr widersprechen - Monarchismus, Hierarchie, Atheismus,
Religion und Glaube - verhält. Kaum kann man behaupten, daß sie sich
neutral verhält.
Morgen Teil 3)
*290118*