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Sonntag, 25. Februar 2018

Kindheitserinnerung

Es ist nicht übertrieben - "beim Zarl" gab es alles. So ausgefallen konnte es gar nicht sein. Der VdZ ist in Amstetten (Niederösterreich) aufgewachsen, und in all dieser Zeit gab es "den Zarl". Tagtäglich stand der Mann mit dem blonden Oberlippenbärtchen in seinem braunen Arbeitsmantel hinter der Theke, und es gab in seinem vollgeräumten Gemischtwarenladen nichts, das er nicht führte. Dieses Photo stammt noch aus 2004! Es hatte sich dort nie etwas verändert, schon alleine das war so wohltuend. Immer im Hintergrund dabei: seine Frau.

Der VdZ hatte nie den Eindruck, daß "der Zarl" ein besonders guter oder ideenreicher Kaufmann war. Und fragte sich immer wieder, wovon er wohl lebte. Denn man besuchte ihn schon längst nicht mehr für die Alltagskäufe, die Wohnhäuser rundherum waren allesamt nach und nach zu Geschäftshäusern geworden, die Supermärkte und Einkaufszentren hatten längst den kleinen Geschäften in der eigentlichen Stadtmitte ihre Existenzgrundlage entzogen (das Zentrum von Amstetten hat heute einen Geschäfte-Leerstand, der wohl an die 50 Prozent grenzt), sondern wenn man etwas (meist eine Kleinigkeit) suchte, das man sonst nirgendwo fand. Umso mehr bewunderte er ihn, denn irgendwie schien er es immer zu schaffen, zu überleben, es gab ihn immer noch, wenn der VdZ später einmal die Stadt besuchte. Dabei hatte er auch als Person nichts Besonderes, war ruhig und unscheinbar. Vielleicht paßt das Wort hier: Demütig. Freilich auch bis an die Grenze fast abstoßender Devotheit.

Mit immer demselben Gesichtsausdruck räumte er jeden Morgen seine Gemüse- und Obststeigen in die Eisenrahmen vor den Schaufenstern, und zu Weihnachten hatte er ein paar Christbäume in der seitlichen Hofeinfahrt stehen. Er war aber einfach ... da. Und das wirkte beruhigend. Denn bei ihm bekam man eben alles.

Worin er dem VdZ auch immer fremd blieb, bei aller Sympathie, die hier seltsam sachlich wurde. Denn auf seine Weise schien er doch der Zeit nach dem Strich zu bürsten. Und doch genau darin zu zeigen, daß er ihr nur nachhinkte.

Wörtlich. Denn hinkte er nicht wirklich?

Er hatte Faschingskostüme. Jedes Jahr wieder war die Auslage mit Masken und Kostümen voll. Zorro, Ritter, Prinzessin, Clown, Hexe, das ganze Repertoire eben. Er schien ein ganzes Arsenal davon zu haben, hinten, in einem Nebenraum. Wer bitte feiert heute aber noch Fasching, wo gibt es noch Faschingsbälle wie damals, in den 1960ern, auf die man sich Jahr für Jahr freute, die zur Jahreszeit gehörten, auf die man sich gewissenhaft vorbereitete, für die man sich eine phantasievolle Verkleidung ausdachte?

Er hatte auch etwas Liebes. Etwas still Liebes. Vielleicht deshalb so Fremdes? Der Welt Fremdes, in der man doch irgendwie leben, nach der man sich also auch orientieren mußte?

Und er hatte Feuerwerkskörper. Da war um Sylvester auch mal Andrang im Geschäft. Als man nach seinem Tod die Lager ausräumte, mußte angeblich sogar der Sprengdienst der Polizei anrücken, denn am Dachboden hatte man große Mengen Nitroglyzerin gefunden, die sich niemand anzurühren wagte.

Das letzte woran sich der VdZ erinnert das er bei ihm gekauft hatte, waren Zylinder für Petroleumlampen, und Öl dafür. Natürlich bekam man es bei ihm. Und nur bei ihm. Ja, er hatte sogar zwei, wenn nicht drei Sorten Öl. Er kannte seine Ware. Jede. Das muß um 1990 herum gewesen sein.

Mittlerweile ist er verstorben, und das Haus wurde verkauft. Der neue Besitzer läßt es aber jetzt in diesen Tagen schleifen. Angeblich, weil die Bausubstanz des Gründerzeithauses zu schlecht war. Wieder wird ein Merkmal dieser an Merkmalen so armen Kleinstadt, die im Laufe der letzten Jahrzehnte wirklich jedes Gesicht verloren hat (Amstetten hat u. a. die höchste Drogenkriminalität Österreichs), nur noch eine ausgeleierte Konsumlandschaft der Mittelmäßigkeit ist, ausgelöscht. Wird der Erinnerung anheimgeschrieben. Erinnerung an die Zeit eines völlig anderen - ja, so muß man es nennen: glücklicheren - Wirschaftens, die Zarl noch bis in diese Jahre repräsentierte.


Bild: NÖN





*050218*