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Sonntag, 14. April 2019

Ein anderes Leben leben

Man sollte das Sensorium der Kunst der 1970er Jahre nicht unterschätzen. Die oft gerade in sogenannten bürgerlichen Sphären sehr deutlich spürte, was sich in der Lebensweise zu verändern begann. Das uns den Boden unter den Füßen wegziehen wird, wenn es so bleibt. Es kam nicht mit Hippiekleidung und LSD-Fahne daher, wirkte oft sogar hausbacken und bieder. Aber sie hatte etwas zu sagen, hatte manche Warnung verkündet, hatte aber nicht den selbstzerstörerischen, verwirrten Impuls, die Formen zu zertrümmern. Aber sie hatte oft verdammt Recht. 

Denn die Zerstörung der verwurzelten, kleinen, persönlichen Wirtschaftsstrukturen hat unser Leben und unser Denken und Fühlen mehr verändert, als all das Politgequatsche, mit dem wir heute überlagert werden. Man muß deshalb dieses Lied von Udo Jürgens in eine Reihe mit dem "Kleinen Beisel" eines Peter Alexander oder so mancher Lieder eines Reinhard May stellen. Dahinter ist dieselbe, berechtigte Wehmut - das Kleine, das Alltägliche und Persönliche geht verloren. Dabei liegt dort das Leben! Und die Kunst stellt es uns nicht nur vor Augen, sie läßt uns in ihrer Traumwelt jene Gefühle haben, jene Stimmung erinnern, die uns zeigt, wo es hingehen sollte. Wir wüßten es. Aber wir vergessen es, und es geht in der Beschäftigung mit dem wild zuckenden Schwanz der Eidechse unter. Aber die Eidechse ist längst über alle Berge.

Man nannte es dann großkotzig "Strukturbereinigung", was nichts war als die Ausrottung einer Art zu leben und zu wirtschaften. Zugunsten eines kalten, berechnenden Technizismus, der uns bis heute vormachen will, daß rationalistische "Vorteile", ablaufoptimierte Reduktion von Gütern auf einzelne Funktionen das Leben durchaus verdrängen können weil am Ende doch bereichern, ja mehr Zeit und Kapazität für "das Leben" selbst haben. Bis wir nur noch mit Optimierungen und ihren Folgen beschäftigt sind. Denn am Ende stehen wir mit leeren Händen da, wenn wir das Kleine in all seiner scheinbaren Umständlichkeit - die eine Lebensfülle ist! - gering achten. Sogar wir selbst sind die direkten Opfer, in Arbeitsverhältnissen, die unser eigentliches Gut, aber auch unsere Mangelhaftigkeit, nicht mehr kennen dürfen, weil sonst nichts mehr "funktioniert". 

Aber das, was uns dann fehlt, ist anders nicht mehr zu haben - das Leben selbst. Man muß die subjektivistische Wende zweifellos verwerfen. Sie ist verständliche Gegenreaktion gegen eine Ablösung unseres Urteils von uns selbst. Fremde Gedankengebäude, die mit unserem eigenen Hausverstehen nichts mehr zu tun haben, die uns mit umso größerer Autoritätsgebärde aufgedrückt wurden und vor allem werden, haben die Gefahr ahnen lassen, die darin besteht, daß wir die Welt überhaupt nicht mehr aus uns heraus beurteilen und bewältigen können. Daraus entstand dann die Rückwendung auf uns selbst, die, um sich zu legitimieren mit einer Metaphysik versehen werden mußte, um legitim zu sein.

Aber es sind die fremden Gedankengebäude, die daran "Schuld" haben. Denn die Wahrheit ist erst das, was uns in ein durchgängiges, nicht fragmentiertes Ganzes bringt, so daß plötzlich auch Intuition (das, was man heute nur noch diffus mit "Gefühl" bezeichnen kann, weil die nötigen Begriffe fehlen weil ihrer Legitimität beraubt) zu ihrem Recht kommt. In der wir alle in einer objektiven Grundstruktur des Weltseins selbst rückgebunden sind.

Es ist eine Bewegung der Ablehnung des Falschen, der Irrtümer, die uns zum Subjektivismus verführt hat. Aber es ist auch falsch, daraus zu schließen, daß wir selbst die Quelle der Wahrheit wären. Wobei selbst das verstehbar wird. Wenn uns die Wahrheit von außen nicht mehr begegnet (und die Rede ist von der Kirche), oder wenn diese Wahrheit delegitimiert wird, wo soll sie dann noch sein? In den Irrtümern, mit denen wir seit langem überhäuft werden? Die wir doch so klar in unserem Innersten als Irrtümer erkennen? Denn jeder Mensch kennt die Stimme Gottes. Sie war es, die ihn ins Leben rief. Sie war das Wort, aus dem er kommt. Und wäre dieses Wort nicht nach wie vor unser erster und tiefster Grund, den wir, wenn auch noch so leise noch ständig hören, wir könnten keinen Moment überleben.

Die Kunst hat die Aufgabe, die Ohren für dieses Wort wieder bereit zu machen. Und sei es so winzig und anfanghaft und nur in kleinen Spuren, wie in diesem Lied. Ungemein populär, zeigt es an, daß die Menschen gespürt haben, daß man ihnen etwas wegnimmt, daß sie etwas in dem Gerede um das, was angeblich das Leben besser mache, aber alles halt verändere, weil es in den frühen 1970ern unsere Ohren vollsabberte, nicht glaubten. Daß mit diesen ersten Supermärkten, die überall nun eingerichtet wurden, irgendetwas nicht stimmte. Daß es ein Verlust war, wenn von den früher fünf kleinen Läden in der Straße einer nach dem anderen zusperrte. Daß irgendetwas an den Billigangeboten, die fortan die Szene bestimmte, zu billig war.

Deren Wahrheit so brutal ist, daß sich die Betriebswirtschaftslehre bis heute weigert, die Dinge überhaupt nur anzuschauen - daß nämlich nichts an den Billigläden und Supermärkten "billiger" war. Sondern, daß sie es nur geschickt verstanden, die Waren TEURER zu machen, ohne daß man es merkte. Weil nämlich die gebotene Leistung deutlich sank. Man selber bevorratete plötzlich, was früher der Laden machte. (Gleichzeitig stieg die Menge an Weggeworfenem, Verdorbenem dramatisch.) Man mußte Kühltruhen anschaffen und unterhalten, die früher der Laden betrieb. Mußte selber vorfinanzieren, was früher Tante Emma machte, bei der man täglich holte, was man eben täglich brauchte. Mußte selber aussuchen, was früher "der Herr Zarl" mit Rat und kleinen Handgriffen elegant leitete, so daß man das Richtige fand. Brauchte kein Auto, um ins Einkaufszentrum zu fahren, weil "der Aigner" gleich gegenüber war. Der Leser möge die Beispiele aus eigenem Erfahrungshorizont erweitern.

Und sich dann die Frage stellen: Leben wir heute wirklich besser? Oder träumen wir nicht davon, ein anderes Leben zu leben, nur können wir das nicht mehr?







*280119*