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Sopron, am 7. Juli 2022
Sehr geehrter Herr Forster!Ich lebe seit 15 Jahren in Ungarn. Viele ihrer Aussagen kann ich bestätigen, aber einges doch nicht. Nach wie vor fehlt mir vor allem eine Sicht von genuin NIcht-Ungarn, die NICHT so überzogen romantisiert. Und diese Seltsamkeit könnte auf viel schließen lassen. An das dieser unverhohlene Selbsthaß (!) als Österreicher/Deutscher verweist, den ich unter Ihren Zeilen verspüre. Gleichzeitig warte ich immer noch auf jene Nüchternheit, die Ungarn und die Ungarn von dieser propagandistischen Beinote befreit betrachtet, die die meisten "Beschreibungen" zu kaum erträglichen Nebeln macht.Was im übrigen gar nicht so ungarntypisch ist, sondern von den Ausländern kommt, die als Gast oder Dauergast hier leben und offenbar manches legitimieren wollen. Von wo es zum "Schönreden" (von allem) nicht weit ist. Ich kenne weit mehr Ungarn, die diese Nüchternheit aber durchaus haben. Diese romantische Selbstüberhöhung ist also eine Fremdsicht, wo immer sie herstammt, die aber auf die auch leider seht typische ungarische Eigenschaft des Selbstmitleids paßt. Eine gewisse Trägheit kann man vielen Ungarn nicht absprechen, die mit solchen selbst- (und in diesem Fall legimiert weil "fremd-")erhöhenden "Geschichtsdeutungen" natürlich kräftig befördert wird. Und das läßt sich auch nciht auf die Kommunistenherrschaft zurückführen, was man auch gerne tut. Schon im 19. Jhd. hat man "die Ungarn" so charakterisiert.Aber wie konnte das anders sein? Nach den Tataren, nach den Türken? Eben! Kein Land, das einige Generationen unter muslimischer Herrschaft gestanden ist, hat sich kulturell aus eigener Kraft wieder erholt. Keines. Nie. Dazu aber unten mehr.Zur historischen Betrachung muß man vor allem aber einmal berücksichtigen, daß Österreichs und viele andere deutsche Länder vor allem aus zugewanderten Menschen bestehen. (976 war Niederösterreich mit 1-2 Menschen pro km2 "bevölkert", also menschenleerer Urwald.) Nicht wie bei den Ungarn aus einem zugewanderten, durch vielerlei verwandtschaftliche, sippische Bande verknüpftes Volk (wobei ganz sicher auch das ethnisch sehr gemischt gewesen ist, wie es ja immer und überall war) bestanden haben. Was die Grundgrammatik vorgibt, die sich für Ungarn bis heute aufweisen läßt.
Selbst wenn sie im Laufe der Jahrhunderte nahezu ausgelöscht wurde. Aber alles Seiende existiert aus seiner Anfangskonstellation, und somit sind auch diese Länder von ihrer ursprünglichen Grammatik geprägt. Und die ist stark unterschiedlich:Das heutige, aus mehreren Ländern bestehende) Österreich ist und war ein TERRITORIAL-Land, und war von Beginn an so verfaßt. Das Recht in solchen bewußt als "Marken gegen die Steppen" gegründeten Ländern war Territorialrecht (was im MA keineswegs üblich, wenn auch nicht unbedingt historisch "neu" war), und somit gar nicht an den Bewohner, sondern an die Scholle, den vermessenen Meter, die Mark(ierung) geknüpft. Wer den Fuß darauf setzte, stand unter dioesem Gesetz. DARAUF wurde die Verwaltungsstruktur gesetzt, also ein (meist rheinländischer und fränkischer) Adel (Stichwort "überzählige Söhne"), und vor allem aber dann die Klöster (die per se unpolitisch waren und sicher nie die unselige Erbschaftstragödie brachten, die dann die deutsche Völker so zerrissen hat.) Und diese alle haben Siedlungswillige mitgenommen oder angelockt, egal wo die herkamen. Es war also ERST die Struktur da, dann kamen die Menschen, die sich darein fügen mußten.Die völkisch-typische, weit mehr etnos-zentrierte Gliederung wie die Ungarn aber hatten sie nie. Und die hat sich mit dem universalistischen Kaiser nur "so irgenwie" quasi-völkisch nachgebildet (deshalb auch die romantische Überhöhung des Kaisertums.)Die Ungarn hingegen hatten einen PERSONAL strukturierten Staat, d. h. ein Oberhaupt (Fürsten bzw. Könige; erst die Arpaden als Führungshaus, dann die Franzosenkönige, ab Mohacs die Habsburger, wobei auch hier die ungarischen Pans/Gespane noch dazwischengeschaltet waren, mit durchaus unterschiedlicher Ausrichtung) mit dem die Menschen ganz persönlich verbunden waren - Haupt und Leib.Ich habe mit etlichen Nachfahren aus Zugewanderten im 18. Jhd. gesproche, sie alle haben bestätigt: Sie sind ZUM KÖNIG gewandert, und haben sich ihm SOFORT unterstellt; oft auch sofort aufgehört, deutsch zu sprechen. Was etwa bei den Rußland-Deutschen gar nicht anders war. Aber wer ist ausgewandert? Eben. Entwurzelte, Ungebrauchte, Überzählige oder Neuanfänger, warum auch immer. Aber deshlb waren sie auch äußerst rasch "integriert" - unter der Krone! Als Symbol dieser persönlichen Anbindung an eine gottgegebene, personal verfaßte Struktur.Was sich in den (dem Feudalsystem des Westens analogen) Verwaltungsstruktur der "Gespanschaften" bis ins 20. Jhd. wiederfindet. Aber diese Verwurzelung mit dem Boden, die den Nicht-Nomaden "Germanen" eignet, fehlt deshalb auch den Ungarn, und das bis heute. Es war also in Ungarn ERST das Volk (als Organismus der Menschen) der Magyaren, und dieses Volk hat sich dann Land genommen.Das ergibt eine völlig andere Art, sich an "den Staat" (sei es,weil er "der König", oder eben die Verwaltungsstruktur "ist") anzuschließen. Der in Ungarn stets bei weitem personalisierter war und ist als v. a. in Österreich und einigen weiteren dt. Ländern, wenn diese nicht aus den ursprünglichen Völkern kamen (Sachsen, Bayern, Schwaben, Hessen usw., im Gegensatz zu Brandenburgern, die ehem. Ostprovinzen - außer den Schlesiern, auch die waren ein Volk, aber ohne Staat - usw.) und seit der unseligen Gründung eines "Kaiserreichs Deutschland" und dann vor allem seit 1945 als Lebensordnung fast vollständig zerrüttet weil durcheinandergeraten ist. Und die Deutschen heute zu nahezu identitätslosen Menschen macht, nicht zu "einem Volk" (nur zu einer "Bevölkerung").
Und ich meine übrigens, in dem historisch doch sehr eigenwilligen Kurs der Siebenbürger (viele Sachsen!) einen Anklang an diese ursprüngliche Herkunft aus Volk (Stamm) oder "Territorialstaat" zu erkennen, die es dort noch dazu mit dem auch recht eigenen und nicht-magyarischen Volk der Szekler zu tun hatten.Daran anknüpfend finde ich die Ungarn aber immer auch ein wenig undankbar und unausgewogen weil quasi "politisch aktiv" in der Bewertung ihrer eigenen Geschichte. Nicht immer kann man den Habsburgern und "den Österreichern" (als deren Länder) brutalen Eigennutz vorwerfen. Viel war groß. strategisch und abendländisch betrachtet klug und selbstlos. Auch war der Herrscherethos durchaus und immer wieder großartig. Viel deutsches Blut wurde auch vergossen, viel deutscher Schweiß investiert, um das zweimal (nach den Tataren und dann noch einmal nach den Türken) völlig devastierte oder zumindest entstaltet-enteignete Land wieder aufzurichten. Mit vielen Einwanderern aus deutschen Völkern, darunter (und das paßt wie Faust auf Auge) vielen Protestanten, die sui generis, als Grundhaltung, ein gestörtes Verhältnis zu Verwurzelung und Boden haben, und deshalb nur eine ideologisierte Anbindung an "den Staat" herausgebildet haben.Außerdem ist doch wirklich bemerkenswert, wie es den Habsburgern überall gelungen ist, ihre Länder binnen oft weniger Jahrzehnte kulturell zu heben, ja überhaupt oft eine einende Landeskultur zu errichten. Das wäre nie gegangen, wenn man die Eigenarten der Völker ignoriert oder brutal glattgebügelt hätte. Da war also durchaus auch viel konstruktive Liebe am Werk, die den Habsburger Ländern oft sehr gut getan hat. Oder ist Ihnen ein Land bekannt, das grosso modo unter den Habsburgern ausgeplündert, beraubt und devastiert wurde? Mir jedenfalls nicht. Und das war keineswegs der in Westeuropa so verheerende kapitalistische Geist, der das bewirkt hat, im Gegenteil. Die Industrie in den Habsburger Ländern war bemerkenswert "sozial".
Diese gemeinsame Kultur hat mich auch hier in Ungarn am meisten beeindruckt - ich bin hergekommen und war mehr oder weniger in "derselben Kultur". Was sich angesichts der fehlenden Sprachkenntnis als extrem förderlich erwiesen hat. Man kommt auch ohne Ungarisch durch, sozusagen, mit Gesten, Tonfall, Körperhaltungen etc., es ist weitgehend "dasselbe" gemeint.
Aber diese langen Nichtungs- bzw. Zwischenperioden haben Ungarns Geschichte viele Jahrhunderte gelähmt, nicht die Habsburger. Und auch ohne daß man das den Österr./Dt. "vorwerfen" könnte. Was aber manchmal geschieht. Die aggressive Magyarisierung ab dem 19. Jhd. ist die Reaktion darauf: Das Bewußtsein sollte etwas organisch nicht Vorhandenes "herbei-behaupten". Der katastrophische Fehler der Vertreibungen 1946 hat m. e. den Ungarn sowieso "den Rest" gegeben, und es sozio-kulturell Jahrhunderte zurückgeworfen, aber da ist eine andere, weitere Geschichte. Wenngleich hier dringende "Reparaturmaßnahmen" notwendig und sogar möglich wären. Ohne historische Wahrheit und Nüchternheit lähmt man Ungarn aber noch auf lange lange Zukunft.Die aus dem Gesagten folgende (oder die grundsätzliche Landesstrutkur bildende, je nachdem) Charaktertypologie der Ungarn hat aber auch mit der Topographie des Landes zu tun, die ein Spiegel des Volkes ist. Die Magyaren sind ja bewußt wieder in eine (grenzenlose, quasi-pantheistische) Ebene gewandert, wo es keinen Eigentumsanspruch gab. Zu klein waren auch die hier nach dem Awaren-Niedergang anwesenden Volkschaften (darunter sogar kaukasisch-persische Stämme.) Weil solche Verwurzelung (auf der Grundlage von Eigentum, zu sehen als Verantwortung für den Boden) typisch für stärker strukturierte Landschaften ist. Während Ungarn zumindest zur Hälfte doch sehr "flach" ist. Und es war ein nomadisches Volk, das spielt hier (und bei der Betrachtung der Volkskultur) eine große Rolle, es führt auch zu Widersprüchen im Land.´Der Zuzug der Zigeuner war deshalb ebenfalls kein Zufall - flache Landschaften verlangen keinen über-sippischen Gehorsam, prägen nicht, sehr vereinfacht gesagt.Der langen Rede kurzer Sinn: Mir fehlt an Ihren (an sich geschätzten) Schriften, Herr Forster, Nüchernheit und Distanz. Sie würde ihre gute Schreibe zu mehr guten Texten heben. Und zwar vor allem über "Ungarn und die Ungarn". Die viele Ungarn, behaupte ich, zwar gerne schlucken, weil sie schmeicheln (und die Ungarn lassen sich gerne und nicht immer zu ihrem Vorteil schmeicheln), aber das geistige Ungarn (und ich meine hier kein linksversifftes Intellektuellenpack) doch recht anders und nüchterner sieht. Wenn man das aber herausarbeiten könnte, dann meine ich könnte man wirklich konstruktiv ein Ungarn-Bild aufrichten (helfen), das sowohl das Wesen des Landes und seiner Menschen aufgreift, als auch eine tragfähige Vision bietet. Und die ist m. e. in Ungarn aus dem Wesen des Landes her personen-, also mon-arche(n)-zentriert.
Das ist anders als in Österreich nämlich in Ungarn keine romantische Nostalgie, sondern kultureller Wesenszug. Der sich in Ö nur noch regional und am Land findet, dort aber dann auch noch lebendig, gesund und gewachsen, sogar bis heute: Wie ein Corpus, der sein Haupt sucht und gerne nach jeder Simulation greift. Ich habe sogar den Eindruck, als würde das ein V. Orban (den ich in vielem freilich sehr kritisch sehe) manchmal ahnen.
Lassen Sie mich abschließend aber bemerken, daß der Eindruck falsch wäre, ich würde "nur" kritisieren. Weit gefehlt. Es lebt sich hier gut, und vieles in Ungarn finde ich auf jeden Fall "besser" als im Westen. Zumindest "noch", denn das Land verändert sich stark. Mit vielen Ihrer positiven Einschätzungen gehe ich also konform. Das sollte über meiner obigen Kritik nicht vergessen werden.
Mit freundlichen GrüßenW Ambrosius