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Freitag, 22. Mai 2020

Leben als Prozeß eines Weges nach Hause (2)

Teil 2) Was man aber wirklich sehen kann


Das Erzählte spricht hier mehr als aller theoretischer Disput, der freilich die wirkliche Wirklichkeit hinter allem längst schon erkannt hat. Wer nun auf diese Weise sehen will, der sehe nun auf diese Weise, was wirklich ist. Auch wenn es die meisten nicht glauben wollen: Wir sehen hier unsere Zukunft. Mit dieser neuen Kulturstufe werden aber auch jene Elemente mit zu uns kommen, die die afrikanische Welt bereits heute kennt, und die sie historisch geprägt haben.

Was sich geistig bereits vorbereitet hat, hat dabei auch längst die kulturellen Einrichtungen geschaffen, die diese geistigen Bedingungen mit realem Leben erfüllt. Man denke dabei an den Sozialstaat in jeder Form, der auf die afrikanischen Verhältnisse (als deren praktische Nahrung) paßt wie der Schlüssel ins Schloß, man denke ans Eherecht und die Entwicklung der Stellung der Ehe in unseren Ländern (wo die Gesetze allerdings das Rechtsempfinden der Menschen umsetzen einerseits, natürlich auch anderseits prägen), man denke an das "Recht auf Familiennachzug" für Migranten, das alles vor dem im Film gezeigten Hintergrund eine ganz neue Deutung zuläßt. Auf diesen Umbau ganz direkt und konkret hinarbeitet, ihn nicht einmal  nur ermöglicht, sondern sogar fördert. Unsere Gesetze haben diesen kulturellen Umbau konkret geschaffen.

Das heißt aber noch mehr. Es heißt, daß in Europa nicht einfach eine neue Kultur entsteht (die bereits enorm weit gediehen ist), sondern es wird ein Nebeneinander zahlreicher Kulturen werden. Denn wenn es hier Nigerianer sind, sind es dort Marokkaner (mit einer völlig anderen Kultur), dort Pakistani oder Türken, und dort Afghanen. Die aber natürlich alle ihre heutigen wie historischen Einbettungen und Beziehungen mitnehmen. Konkret auf den Film bezogen heißt das, daß zum Beispiel das Verhältnis der Nigerianer zur islamischen Kultur (wie zu allen übrigen Kulturen) auch in Europa etabliert wird. Oder das der Türken zu Pakistani.

Wir haben also unseren Raum entleert, indem wir seine historischen Beziehungen eliminiert, aufgelöst haben (DAS bedeutet ja letztlich Identitätsauflösung: Sie ist das Auflösen der Verbindlichkeit von Beziehungen; man sieht auch das ganz konkret im Film). Wir lösen aber nicht nur den Raum auf (von dem nur noch der Boden bleibt), sondern wir stellen den neu ankommenden Kulturen auch noch die Einrichtung (je nach Wunsch) und die Maschinen zur Verfügung.

Und bezahlen das mit jenem Geld, das wir hier am Markt für unser Erbe erhalten, dort aber in alle Zukunft abarbeiten werden: Unsere Kinder, und deren (allerdings ohnehin noch wenigere) Kinder, werden diese Schuld begleichen. Noch dazu, wo wir unsere Möbel und Maschinen oft selbst noch nicht einmal bezahlt haben.

Diese Erkenntnis über den Zustand unserer Kultur war der Frau im Film auf eine Weise Mittelpunkt ihrer Erfahrung. Denn sie hat diese Leere mit neuen Eindrücken und neuen Kulturelementen zu füllen versucht. Sie hat es lange mit großer Anstrengung unternommen.

Das ist das vielleicht Erkenntnisreichste an diesem Film. Denn trotz allen Bemühens ist dieser Versuch, das zu füllen, was unsere Kultur nicht mehr besitzt, gescheitert. Man muß sagen: Auf rätselhafte Weise! Denn was nach fast zwei Jahrzehnten des Versuchs, eine "neue Kultur des Integralismus" zu gründen, passiert ist, bleibt zwar unausgesprochen, wird aber umso deutlicher sichtbar. Die Proponentin im Film ist an etwas gescheitert, das es ihrer ursprünglichen Ansicht nach gar nicht geben konnte - sie ist an einem Kulturkonflikt gescheitert, der Prägungen in der Person hinterlassen hat, die noch nie ein Thema waren. Die sogar verleugnet worden waren.

Nun, nach dem rätselhaften Scheitern an einem nie bewußten und hartnäckig geleugneten Kulturkonflikt fällt sie - gegen Schluß des Videos - auf eine Kultur zurück, die zwar reichlich diffus und verwaschen, aber nichts desto weniger DA ist. Erfahrbarer "letzter" Halt geworden als eine Wurzel, die vielleicht erst DURCH dieses aberwitzige Lebensexperiment, das auf viel Hochmut weil viel Besserwissen und Leugnen beruhte, zum ersten Mal ans Licht gekommen ist.

Wir wollen hier ganz klar aber nicht von "deutsch" sprechen. Diese Verwaschenheit alleine, die die vielen Einzelkulturen in diesem geographischen Raum, der sich Deutschland-Österreich-Schweiz nennt, in eine "deutsche Kultur" auflösen sollen, die es aber gar nicht gibt, die eine reine Behauptung, ein politischer Begriff, ein Sammelsurium von konkret gar nicht in diesem Scheinort enthaltener Eigenschaften und Merkmale ist, sorgt für so viel Verwirrung und verhindert, daß das wirkliche Problem des laufend versuchten Kulturaustauschs verborgen bleibt.

Die Frau ist deshalb zu guter Letzt und am Ende ihres Lebens nicht auf ihr "Deutschsein" zurückgestiegen. Wie im Alter, wenn bei jedem die Kraft nachläßt, sich und die anderen zu belügen, fast unmerklich, wie selbstverständlich. Sodaß alle Illusionen, alle geistigen Konstrukte zerfallen, weil an den Realitäten, an der Empirie, an den Erfahrungen, sohin am Wesen der Welt selbst zerschellten.

Sie ist auf ihr "Hessisch-sein" gekommen. Auf die ursprüngliche und in jedem Fall ihr angemessene Kultur. Der nur eines mittlerweile fehlt, als das, was Kultur überhaupt erst zu einer solchen macht: Die Institutionalisierung des Eigenen. In welchem - fehlenden! - Rahmen sie deshalb auf eine Weise aufgewachsen ist, die aus dem faktischen Zustand der eigenen Kultur eine Sehnsucht nach "anderer Kultur" geweckt hat.


Morgen Teil 3) 
Unsere Wurzeln liegen nicht in "Deutschland". 
Sie liegen in der Verwobenheit in unser jeweiliges Volk



*060520*