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Donnerstag, 17. Januar 2019

Auswanderung von Kulturräumen

Sowohl die Geschichte der USA wie die Geschichte der Deutschen in Rußland zeigen grundsätzliche Parallelen. Bei beiden Fällen von Einwanderung wird etwas Wesentliches deutlich: Nirgendwo ging es um die Integration in einen anderen Kulturraum, sondern immer um die Möglichkeit, in fremdem Land innerhalb der eigenen Kultur besser, freier zu leben. Ja das war für die allermeisten sogar Bedingung. Wurden diese nicht erfüllt, kam es zu Spannungen, und oft genug zu Rückwanderungen. 

Als Katharina die Große 1763 begann, unter den Notwendigkeiten, die großen Räume, die Rußland durch siegreiche Kriege (etwa gegen die Türkei) dazugewonnen hatte, kulturell zu heben, wirtschaftlich fruchtbarer zu machen und als Bollwerke gegen fremde Kulturen zu etablieren, um die Ansiedelung von Deutschen in Rußland zu werben, lief die Werbeaktion erst ab dem Moment gut, und es wanderten wirklich zehntausende aus Mitteldeutschland an den Ural, an die Wolga, nach Kasachstan, in der Gegend von St. Petersburg und in begrenztem Maß in die Ukraine, als sie zusicherte, daß diese Menschen geschlossene Siedlungsräume bekommen würden, wo sie innerhalb der eigenen Kultur und die eigene Sprache leben konnten. Aus manchen Gebieten in Hessen siedelte jeder Zehnte nach Rußland über, sodaß mancher Landesfürst die Auswanderung zu beschränken versuchte. (Übrigens wanderten viele aus, weil sie im eigenen Lande hoch verschuldet waren, ein eigenes Kapitel.)

Räume, die sie dann auch weitgehend selbst verwalten konnten, wo sie eigene Schulen, Theater und Zeitungen betreiben, aber vor allem ihre Religion (protestantisch und katholisch) ausüben konnten. Viele haben nie in ihrem Leben die russische Sprache gelernt, auch nicht in den späteren Generationen. So entstanden große geschlossene Siedlungsräume, die sich auch als "deutsch" bezeichneten, und sich in den ersten Jahren unter Stalin sogar zu einer eigenen Sowjetrepublik an der Wolga formierten konnten. Bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und "deutsch" zum Feindbild wurde. Stalin traute dem kulturellen Zusammenhang nicht mehr, nun waren sie, die immer der Regierung als einzige wirkliche Vorbedingung bei der Einwanderung den Treueeid zu schwören hatten, potentielle Staatsverräter.

Aber längst hatten diese Deutschen auch wirtschaftlich gehöriges Gewicht. Sie waren tüchtig, gut gebildet und gute Handwerker, und vor allem durch einen unbeugsamen Willen, auch durch größte Schwierigkeiten hindurch ihr Überleben zu ermöglichen, bekannt. So hatten sie überall aus kahlen Steppen und Urwäldern prosperierende, kleinstrukturierte Siedlungsräume geschaffen.

Es kam erst ab dem Moment zu Verwerfungen, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Russifizierung beginnen sollte. Die etwa zwei Millionen Zuwanderer sollten nicht mehr "Deutsche" (auch dieser Begriff kam ja erst jetzt wirklich auf), sondern "integrierte" Russen sein. Ab dem Moment setzte eine beträchtliche Auswanderungswelle nach Südamerika und in die USA ein. Die Probleme dort blieben freilich dieselben, weil auch die Voraussetzungen dieselben geblieben waren: Man wollte innerhalb der eigenen Kultur bleiben. Aber auch in Brasilien und Argentinien hatte längst der Versuch eingesetzt, eine enger gefaßte Nationalität durchzusetzen. 

Sieht man vom kurzen Aufleuchten unter Stalin ab, dem eine gewaltsame Zerstreuung durch Aussiedelung nach Sibirien etc. folgen sollte, sieht man von den neuen Möglichkeiten in den 1980ern ab, wo schon unter Breschnew eine Art Renaissance solcher Siedlungsräume möglich werden hätte sollen, wanderten die allermeisten dieser Deutschen, die sich über Jahrhunderte als Deutsche verstanden hatten,  und wo sich dieses Mitteldeutsche (sehr viel Hessisch und Sächsisch) fast zu einer eigenen Sprache entwickelt hatte (ähnlich dem Hoanzischen in ungarisch-deutschen Siedlungsräumen), in großem Stil wieder nach Deutschland zurück. Heute leben noch etwa 500.000 (ehemalige) Deutsche in Rußland, aber nicht mehr in geschlossenen Räumen, zerstreut waren sie weitgehend zu assimilieren. Diese ab den 1990er Jahren rund 1,5 Millionen Rückwandernden wollten Deutsch bleiben, und ihre (mitteldeutsche) Kultur weiterhin leben. Das schien ihnen nun wieder in Deutschland am besten möglich, zumal ja in Rußland in jenen Jahren alles auseinanderfiel. 

Aber nach wie vor gibt es an der Wolga und in Kasachstan kleine Gebiete und Ortschaften, in denen diese alte hessische und sächsische Kultur gelebt wird. Die Katholiken darunter haben sogar einen eigenen Bischof.

In anderer Form sind gleichwertige Vorgänge auch in den USA zu beobachten. Die großen Auswanderungswellen in die USA sind aus ähnlichen Motiven wie im Falle Rußlands in die Gänge gekommen: Man wollte das Eigene besser leben können. Völlig selbstverständlich suchte sich der überwiegende Teil der Neuankömmlinge Siedlungsräume (und seien es Stadtviertel), in denen bereits Landsleute lebten. Dort konnten sie Fuß fassen, und dort konnten sie - basierend auf kulturell unterlegten menschlichen Verbindungen - eine neue Heimat aufbauen. Und darauf baute dann die Prosperität des Staates USA auf.

Und auch hier war der Zweite Weltkrieg der große Bruch. Er wurde nach 1945 als Vorwand für einen Kulturkampf genommen, der vor allem ein Kampf der Protestanten und Juden gegen die Katholiken war, die durch ihre hohen Geburtenraten dabei waren, die Mehrheit im Lande zu werden. Man tat es, indem durch gezielte Umvolkungspolitik alle diese Partikularräume, die durch ihre Herkunftsethnie und vor allem Religion (katholisch) charakterisiert waren, auflöste. Werkzeug dazu waren vor allem die Schwarzen aus dem Süden der USA. Sie verdrängten die Polen, Italiener und Deutschen aus den Stadtzentren in die Peripherie, wo sie nunmehr zu "Weißen" wurden. Zu einer amorphen Masse von Konsumenten und "Amerikanern", die ohne sozialen Zusammenhang, partikularisiert, atomisiert nur noch eine Gemeinsamkeit hatten: Den Anschluß an den Zentralstaat.

Welche Verwerfungen wir daraus zu erwarten haben, wird sich noch zeigen, kündigt sich aber bereits an. Wenn es sich auch andere Bruchlinien sucht, an denen sich neue Identitäten zu gestalten versuchen. Denn ein stabiles Leben ist nur in einer geschlossenen Herkunftskultur möglich. Erst sie vermag Identität zu stiften, die mehr ist als positivistisches, also willkürlich gefaßtes Vertragskonstrukt.

Die den Einzelnen zum leicht beherrschbaren Objekt universalistischer Ideologen ("Eliten") macht. Die sich "ihr" Volk, das sie beherrschen, zu schaffen versucht. Auch ohne daß sie sich in der Verbindlichkeit zwischenmenschlich-kultureller Strukturen beweisen müssen. Und sie tut es über eine Religion, als deren Priester sie auftreten, die die heiligen Arkana verwalten, die nur sie kennen und deren Dogmen und Moralgebote nur sie festlegen können. Solche Universalräume (für jeden) aber kann es nur geben, wenn alle Partikularräume ausgeräumt, also ausgelöscht werden.





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