Zwar war es kein Problem für einen echten Tschetschenen, daß der Imam Schamil als Aware geboren war, aber sein späterer Verrat wog schwer. Dennoch, Hauptsache er war nicht aus Dagestan. Denn von dort kommen bis heute für einen echten Tschetschenen nur feige Verräter. Und dieses Urteil hat eine historische Wurzel.
Denn immerhin hatte es der Imam im Kampf gegen die Russen 1845 in einer Entscheidungsschlacht geschafft, durch die vereinten Dagestaner und Tschetschenen ein beträchtliches Territorium am Kaukasus zu einem Emirat Nordkaukasus zu erstreiten, in dem freilich viele Völker lebten. Sein engster Mitstreiter war dabei der Tschetschene und Imam Beno Beisungur, von ihm wird in Grosni bis heute gesungen. Denn der war von anderem Holz, erzählt Navid Kermani in "Entlang den Gräben" an einer Stelle.
Doch dieser letzte Sieg war ein Pyrrhussieg. Den vereinten Kaukasiern fehlte fortan die Kraft, sich gegen das riesige Russenheer zu behaupten. Auch für Beisungur hatte der Kampf Folgen. Bei der Entscheidungsschlacht über die Russen verlor er sowohl seinen linken Arm als auch sein linkes Auge. Und bei einer weiteren Schlacht auch noch sein linkes Bein. Beisungur aber ließ sich, kaum waren die Wunden ausgeheilt, mit einem Lederriemen auf sein Pferd binden und führte seine Männer in die nächste Schlacht gegen den russischen General Woronzow.
Kaum waren die feindlichen Truppen einander am Feld begegnet, da preschte ein Hüne von Kosak vor und forderte mit höhnend-donnernder Stimme den Gegner zum Zweikampf heraus. Sofort preschte Beisungur vor und stürmte im Galopp dem Kosaken entgegen. Das Gefecht lief blitzschnell ab, nur einige Schwerthiebe wurden gewechselt. Dann machte Beisungur kehrt.
Als er ins Lager zurückgekommen war, sah man, daß er eine klaffende Wunde auf der linken Schulter hatte. Der Oberbefehlshaber, Imam Schamil, reagierte aufgebracht:
"Warum bringst Du Schande über uns? Du bist verwundet, der Kosake sitzt aber noch im Sattel!"
"Warte, bis er sein Pferd bewegt," raunte Beisungur. Und tatsächlich: Kaum machte das Pferd einen Schritt nach vorn, fiel der Kopf des Kosaken zu Boden.
Im weiteren Verlauf des Krieges drängten aber die Russen (die schließlich eine Armee von 240.000 Soldaten in den Kaukasus beordert hatten) die Aufständischen in die Provinz Dagestan. Immer mehr Scheichs und Fürsten, alle aus Dagestan, wandten sich von Imam Schamil ab. Bis der in der Festung Schamib belagert wurde, und aufgab, um das Leben seiner Tochter und seiner Frau zu schonen. Er wurde nach Moskau gebracht, wo er in ein feuchtes Kellerverlies gesteckt wurde, wo er auch starb. Von dort aus aber schrieb er noch einmal einen Brief an Beisungur, der solle den Kampf aufgeben, der so viele Opfer koste und doch nicht gewonnen werden könne.
Beisungur antwortete voller Verachtung, daß er nicht wie der Aware Schamib den ehrenhaften Tod in Freiheit dem schmachvollen Leben in Knechtschaft vorziehe. (Wenn auch das, was Schamib getan hatte, für die Tschetschenen den Verrat der Ehre noch wenigstens verstehbar machte, denn Familienbande sind ihnen selbst das Allerheiligste.) Und er hielt den Widerstand gegen die Fremdmächte aufrecht. Es gelang ihm tatsächlich, einen nächsten Aufstand zu organisieren. Doch am 17. Februar 1861 geriet er in einen Hinterhalt, wurde gefangengenommen und zum Tod durch Erhängen verurteilt.
Um den, der ihnen so hohe Verluste beigebracht hatte, besonders zu erniedrigen, ließen sich die Russen etwas einfallen: Auf Befehl mußten sich Hunderte der besiegten Kaukasier am Kirchplatz in Kjasaw-Jurt versammeln, vorgeblich nur, um der Hinrichtung beizuwohnen. Die Trommeln rasselten, stoppten aber plötzlich. Ein Offizier trat vor und verlas ein Edikt des Zaren. Darin versprach dieser demjenigen der Kaukasier eine hohe Belohnung, der die Hinrichtung vollstrecken würde. Doch keiner der Kaukasier meldete sich, es war totenstill.
Da trat ein Dagestaner vor. Er würde es tun. Als Beisungur dies sah, stieß er - mit dem einen Bein stehend, den Kopf in der Schlinge - selbst den Schemel zur Seite, auf dem er stand, und erhängte sich. Es wäre zu ehrlos gewesen, sich ausgerechnet von einem Dagestaner erwürgen zu lassen. In der Ehre aber wurde er tatsächlich unsterblich.
*281118*