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Dienstag, 22. Januar 2019

Fanatischer Wüstenmensch vs. Schöpferischer Waldmensch

"Die trockene Trunkenheit des Orients kommt von der Wüste, wo heißer Wind und heißer Sand den Menschen berauschen, wo die Welt einfach und problemlos ist. Der Wald ist voller Fragen. Nur die Wüste fragt nichts, gibt nichts und verspricht nichts. Aber das Feuer der Seele kommt vom Wald. 

Der Wüstenmensch - ich sehe ihn -, er hat nur ein Gefühl und kennt nur eine Wahrheit. Der Waldmensch hat viele Gesichter. Der Fanatiker kommt von der Wüste, das Schöpferische vom Walde her."

Kurban Said (geboren als Lew Abrahamowitsch Nussimbaum in Tiflis, Georgien, +1942),
in seinem Roman "Ali und Nino"


Navid Kermani schreibt dazu in "Entlang den Gräben":

"Natürlich liegen zwischen Marokko, Jemen, Indien unterschiedliche Klimazonen, es gibt fruchtbare Ebenen, tiefgrüne Flußdeltas wie am Nil. Steppen, Meeresküsten und Seen, Gebirge mit Wiesen, blumenübersäten Hängen oder ewigem Schnee, im Norden Irans sogar Urwälder. 

Aber die Wüste ist doch, wenn mein innerer Atlas nicht ein weiteres Mal irrt, nirgends weiter als zwei, drei Tagesmärsche entfernt, und eben das macht den Orient aus, seine Teppiche wie Gärten, seine Kunst als Abbild einer tatsächlich gegenstandslosen Welt, seine Ornamentik als Formel für den unendlichen Horizont, seine Gastfreundschaft eine Notwendigkeit, Lebensversicherung für den Gastgeber selbst. 

Womöglich lassen sich sogar manche der Schwierigkeiten, die die Demokratie im Orient hat, mit der Wüste erklären, da sie den Kontrast zwischen Stadt und Land verschärft - keine größere Oase, die je vor Räubern, Eroberern, Vandalen sicher war. Die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft beschränkte sich schon aufgrund der Topographie auf wenige Zentren, deren Gefüge zudem permanent durch die Landflucht durcheinandergeriet.

So ist die Wüstengesellschaft bis in die Städte hinein nach Clans und Stämmen segregiert. Heute setzt sich der mythische Gegensatz zwischen Nomaden und Siedlern in den Elendskordons um die Metropolen fort. Alle Städte und selbst die Gärten - nein, gerade sie - sind als Zuflucht und paradiesische Gegenwelt vom Nichts ringsherum geprägt, das man als Möglichkeit in Europa allenfalls in unzugängigen Gletscherregionen kennt. 

Es wird schon kein Zufall sein, daß die Propheten biblischen Zuschnitts, diese Warner, Sonderlinge, Dichter, Visionäre, die ihren Zeitgenossen als Fanatiker galten, wenn nicht aus der Wüste selbst, dann doch aus ihrer Nähe kamen, in die Wüste auszogen, die Wüste überlebten, aus der Wüste heraus predigten, paradigmatisch die Wendung von Jesaja 40, "Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste ...", die auch in der Bibel selbst oft zitiert wird. 

Wohl nirgends sieht sich der Mensch so unmittelbar einer höheren Gewalt ausgesetzt, die er in Not, Bitte oder Klage anruft, als wo seine Bedürftigkeit mit jeder Tagesetappe, jedem Wetterumschwung, jeder Fata Morgana wächst. Und nirgends empfindet er das Leben stärker als Schöpfung, damit als Geschenk, als wo er vom Nichts umgeben ist. "Die Wüste ist wie die Pforte zu einer geheimnisvollen und unfaßbaren Welt."




*301118*