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Sonntag, 27. Januar 2019

Sind wir wirklich technisch so weit fortgeschritten?

Es erhebt sich die Frage, ob wir seit hundert Jahren (oder länger) wirklich eine Explosion des technischen Fortschritts erleben. Sondern ob es sich hier nicht um etwas völlig anderes handelt. Darum nämlich, daß wir verglichen zu dem, was wir "wissen", was auch "Stand der Wissenschaft" ist, lediglich viel zu viel "tun" und wagen, weil wir viel zu überzeugt sind, viel zu wissen, als es tatsächlich tun. Das dachte sich der VdZ, als er unlängst einen Bericht über Pestizide las. Wo ständig davon die Rede war, daß man (also vor allem die Forscher) von allen möglichen Wirkungen (in der Vergangenheit) eingesetzter Pestizide "völlig überrascht" war. Daß sich in der Realität Wirkungen zeigten oder Verweildauern, die den theoretischen Überlegungen bei der Entwicklung nicht entsprachen. Sollte da nicht zuerst einmal die Frage auftauchen, ob wir nicht zu wenig überlegt haben? Zu wenig gewußt haben?

Dabei handelt es sich nicht um "Erfolge" oder wunderbare Fügungen, denn die Realität ist prinzipiell ein Wunder, und insofern ist alles eine Überraschung, buchstäblich alles, wir haben uns nur daran gewöhnt und meinen deshalb irrtümlich, es handele sich um Automatismen. Es geht um klar als solche identifizierbaren Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen.

Ist das so? Ist das so, daß wir in unserem Tun halt auch mit unbekannten Kollateralschäden rechnen müssen, und zwar immer und auf jeden Fall? Kann man dann noch von verantwortungsvollem Tun sprechen? Oder geht das in der Hierarchie der "geringeren Übel" auf? Bei einem Übel, das man gar nicht kennt?

Oder haben wir es gar nicht mit einer so übertollen "technischen Entwicklung" zu tun, sondern mit einem Absenken der moralischen Standards? Mit einem Verfall der Charaktere und damit von einem Ausfall des Denkens? Bei Menschen, die von einem immer deutlicher angestiegenen Größenwahn geküßt immer weniger Skrupel haben, die Welt als einziges Experiment zu sehen? Wo es gleichgültig ist, was sonst noch passiert, Hauptsache man hat einen innerhalb eines bestimmten eingeschränkten Mechanismus erzielbaren Effekt erreicht? Sind wir in der Anwendung von "technischen Errungenschaften" nicht maßlos überzogen und gewissenlos geworden?

Könnte nicht das der Grund sein, daß wir heute in immer mehr Fällen auf die Situation stoßen, daß ein bestimmtes Ziel eines Handelns nicht nur nicht erreicht, sondern die Gesamtsituation sogar noch verschlimmert wird oder gar ins Gegenteil ausschlägt? Aus dem einzigen Grund: Daß wir wie nervöse Pubertätsschussler notorisch mit halbausgegorenen, gar nicht verantwortbaren Lösungen in der Welt herumfuhrwerken. Und als "technischen Fortschritt" verkaufen, was allerhöchstens eine spätere Möglichkeit ist, wenn wir mehr wissen? Sodaß wir in einer Welt leben, die in vielen Dingen deshalb so ungeordnet wird, weil wir einfach die Geduld nicht haben, wie sie nur eine Haltung der Sittlichkeit, eine Haltung der geduldigen Bewährung bringt? Daß wir uns pausenlos mit Federn schmücken, die gar nicht auf unsern Hut gehören: Daß wir Lösungen hätten, die - wie sich immer öfter herausstellt - gar keine Lösungen sind, sondern lediglich den Müll anwachsen lassen, das Nicht-Geordnete, Nicht-Ordnenbare.

Das Gesagte läßt sich auf alle möglichen Bereiche ausdehnen. In der Forschung ebenso, wie in der Politik. Bereiche, in denen wir mit "Zukunften" rechnen, die sich noch nicht einmal annähernd als gewiß abzeichnen. Und mit einem Schraubenzieher halt die eine Schraube anziehen, ohne zu wissen, zu welchem Gerät sie gehört, ob wir einen Ozeandampfer, einen Bagger oder einen Computer "reparieren", weil wir aber genau wissen, wie man Schrauben festdreht.

So daß wir uns in einem Zeitalter befinden, das keineswegs technisch so weit avanciert ist, sondern wo wir einfach dem, was wir wissen, um Längen voraus sind und damit pausenlos in unbekanntem Terrain operieren. Zumindest würde sich daraus auch der immer höhere Handlungsdruck erklären, den wir in allen möglichen Bereichen heute erleben. Wo es nur noch um "Zeitdruck" geht, weil wir ein gerade wieder hereinbrechendes Unglück beheben müssen, ausgelöst durch ein Handeln an einem "Gerät", das wir zwar irgendwie erfunden haben, dessen eigentliches Einsatzterrain wir aber gar nicht kennen.* 

Wenn man jetzt noch an Eingriffe in offensichtlich komplexe Systeme denkt, an Wirkkreise, wo eines das andere ergibt, wir an einem solchen Eingriff weiterarbeiten, darauf wieder aufsetzen, und so weiter, womit sich die Wechselwirkungen exponentiell vermehren - haben wir dann wirklich den Fortschritt, den wir uns vorbeten?

Was - wenn nicht das - sollte man eine Auswirkung von Hybris, Hochmut nennen? Das Mindeste, was man dazu sagen kann, ist, daß es überall ... am Nachdenken, an der Besinnung fehlt. Und zwar schon seit langem. Wir wissen heute zwar viel. Aber wovon? Wir tun heute viel. Aber was?

Und fügt sich darein nicht die wirklich seltsame Beobachtung, daß wir seit Jahrhunderten in einem Zustand leben, in dem jede Generation meint, sie wüßte nun erst - im Gegensatz zu den Vorvorderen - alles, das Wissen sei gar "settled", es gäbe nichts mehr zu erfahren? Während doch genau das Gegenteil zu beobachten ist, wir in immer kürzeren Intervallen mit Folgen der Tatsache konfrontiert werden, daß wir eben NICHT wußten, obwohl wir das vermeinten? Sind wir nicht heute sogar ständig mit Folgewirkungen konfrontiert (der VdZ denkt da an eine kürzliche Diskussion über die Wirkung von "Handystrahlung", nur als kleines Beispiel), die genau das anzeigen? Daß wir mit einer Technik operieren, die zwar im Labor eingesetzt werden dürfte, aber nicht in der freien Wildbahn?

Es geht also um die Frage, was verantwortungsvolles Handeln ausmacht. Und um die Frage, welches Wissen jenen Gewißheitsboden bietet, der auch eine Technik in den Rahmen von Verantwortung zu stellen vermag. Mit der dem Leser hoffentlich nicht neuen Tatsache: Daß die höchste Gewißheit aus dem Glauben und seiner kleinen Schwester, der Metaphysik kommt. Die jedes weitere Denken dann in gesetzten Annahmen formieren und informieren.

Ist das nicht der entscheidende Mangel? Weil sich dieses Nachdenken verflüchtigt hat, sind wir nicht mehr in der Lage, zwischen Problemen und Scheinproblemen zu unterscheiden. Hier beginnt aber das Übel der "Behebung" von Problemen. Und damit das der Technik.


Nachtrag: Anlaß zu dieser Glosse war die Lektüre eines an sich seriös wirkenden Berichts von Addendum über den Forschungsstand hinsichtlich des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft. Der, wie sich der Leser überzeugen möge, von Vokabeln wie "wissen wir noch nicht" oder "damit haben wir nicht gerechnet" oder "müssen wir noch mehr erforschen" nur so strotzt. Es geht dabei dem VdZ nicht um Pestizide. Es geht ihm um das Prinzip, das hier erkennbar wird. Und das er oben in Worte zu fassen versuchte.





*Übrigens spricht dafür auch die Entwicklung des Designs der Dinge, mit denen wir zu tun haben. Die jene gediegene Einfügung in ein Kulturinsgesamt, die Produkte noch vor hundert oder zweihundert Jahren hatten, und die ein Zueinander von Gestalten ist, die in ein Ganzes eingefügt Harmonie bedeuten, zugunsten von "gestaltloser Konstruktionsnacktheit" aufgegeben haben. Die Windräder sind ein gutes Beispiel dafür. Sowohl im Design, in der Ästhetik, als auch in den Wirkungen.





*221018*