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Mittwoch, 9. Mai 2018

Wahrgenommenes ist auch Gewußtes

Damit verlassen wir also die Ansicht, die Wissen in jedem Fall als ein abstraktes Verstandesprodukt bezeichnet, das sich grundsätzlich von dem Erlebten der sinnlichen Welt unterscheidet, und behaupten, daß vielmehr erst das Erleben der sinnlichen Welt das Wissen vermittelt, dessen sich dann der rechnende Verstand innerhalb der Vorstellung bedienen kann. Wir behaupten also, daß Wissen im ursprünglichen Sinne nicht vom Verstand, sondern von den Sinnesorganen in der Wahrnehmung vermittelt wird.

[Wahrnehmung bedeutet ja,] daß uns in der sinnlichen Erfahrung etwas "Wahres" gegeben wird, das wir uns "nehmen" können. Es weist darauf hin, daß uns durch die Sinnesorgane kein Haufen sinnloser Empfindungen, sondern ein Wissen von etwas "Wahrem" dargeboten wird. Wahrnehmung bedeutet also, genau wie für den Griechen "idein" zugleich sehen "und" wissen bezeichnet, immer die Einheit von Sehen, Hören, Fühlen "und" Wissen.

[Sie ist also eine Art "Natursprache".] In ihr gibt uns die Natur jeden Augenblick das Stichwort, das unsere Rolle in der Handlung einer Szene bestimmt. Wahrnehmen heißt, in ein Zwiegespräch mit der Natur geraten und den Sinn der Worte vernehmen, deren Buchstaben aus Farben, Tönen und Düften bestehen. Ebenso wie der Sinn der Worte nicht aus der Summe der Buchstaben besteht, besteht auch das Wissen der Wahrnehmung nicht aus der Summe der Sinnesempfindungen. So ist zum Beispiel "die Gestalt" ein wahrgenommenes Wissen, das sich nicht aus der Summe seiner Teile herleiten läßt, also eine Wahrnehmung, die über die bloßen empirischen Wahrnehmungsdaten hinausgeht.


Thure von Uexküll und Ernesto Grassi in "Wirklichkeit als Geheimnis und Auftrag"





*010518*