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Montag, 8. Oktober 2018

Staatsgründungsmythen können auch gelogen sein (1)

Worum es in dem US-Rechtsfall Kylie vs. Ventura überhaupt ging, ist für einen Europäer wahrscheinlich nur mit Mühe nachvollziehbar. Aber irgendetwas an dem Fall ist interessant, der VdZ ist nur nicht sicher, was. Der damit endete, daß Chris Kylie's Witwe 1,8 Millionen wegen Rufschädigung an den Frauenliebling, verdienten Vietnam-Veteran, ehemaligen Wrestler und Gouverneur von Minnesota Jesse Ventura zu zahlen verurteilt wurde. Was ihr ziemlich gleichgültig sein konnte, weil die Versicherungen, die der Verlag abgeschlossen hatte, der mit der Veröffentlichung der Memoiren des "großen Irak-Krieg-Helden Chris Kyle" einen Millionenerfolg eingefahren hatte, der durch die höchst erfolgreiche Verfilmung in "American Sniper" 2014, einem der patriotischesten Filme, den die USA jemals hervorgebracht hatte, noch mit reichlich Gold bezuckert wurde, alles bezahlten. Das Gericht hatte zugestimmt. Man wolle der Witwe des Helden doch nicht ihr Haus pfänden?

In einem Interview meinte Ventura einmal, daß das Gerichtsurteil so sei, als würde man jemanden nach einem Bankeinbruch zwar zu zwei Jahren Haft verurteilen, ihm aber das Recht auf Eigentum an der Beute garantieren. So würden solche Fälle in Zukunft nämlich ausjudiziert. Nun ja, ganz Unrecht hat er damit nicht. Das amerikanische Rechtssystem ist anders als das europäische ein "Fallgesetz". Das heißt, wenn ein Fall einmal so und so entschieden wurde, ist das maßgebend für alle weiteren dieser Art. Das amerikanische Recht akzeptiert also "faktisches (historisches) Recht" weit deutlicher als das kontinentaleuropäische (denn das Prinzip ist vom englischen Recht übernommen) Recht. 

Verwirrt, werter Leser, sollten wir einhalten, klären? Bravo. Diese Verwirrung war erwartet. Sie stellt sich bei vielen Vorgängen in den USA rasch ein. Beginnen wir die Geschichte deshalb von Anfang an und langsam, um sie zu entwirren. Und da müssen wir bei der Vorlage zu dem Film "American Sniper" beginnen, nämlich der auf Verlagsdruck mit ziemlichem Tempo (andere Memoiren zum Irakkrieg waren auf dem Weg, man wollte zuerst am Markt sein und am meisten abkassieren) geschriebenen Autobiographie von Chris Kyle. Der Zeitdruck dürfte also auch schon so manche Sorgfaltspflicht unter den Teppich gekehrt haben.

Chris Kyle selbst war ein Navy Seals, also eine Art Elite-Soldat der US-Armee. Und als solcher war er ein "Sniper", also ein Heckenschütze, ein Scharfschütze, der (das ist unbestritten) einer der erfolgreichsten (nicht aber, wie im Film behauptet, DER erfolgreichste) Heckenschütze der US-Militärgeschichte war, weil er es bei vier Einsätzen und insgesamt drei Jahren im Irak angeblich auf fast 200 "Abschüsse" brachte. Die Zahl ist strittig.

Heckenschützen, Scharfschützen haben seit Einführung von Schußwaffen ja in allen Armeen der Welt eine besondere Rolle gespielt. Und deshalb auch einen halb rechtsfreien Raum zugesprochen bekommen. Denn sie mußten - auf sich gestellt - selbst entscheiden, ob und was und wer mit gezieltem Schuß außer Gefecht zu setzen war. Das hat schon etwas von "Selbstjustiz", der Leser kann es vielleicht nachempfinden. Und hat auch ganz sicher Auswirkungen auf die Selbsteinschätzung des Snipers in seiner Rolle in der Welt. Die Geschichte von Kyle dürfte das zeigen. Und die Geschichte derjenigen, die in ihm unbedingt einen Helden sehen wollten. Er schien so ... ur-amerikanisch.

Daß es Hecken- oder Scharfschützen (Sniper) gibt, hat im wesentlichen zwei Gründe: Die große Mehrheit derjenigen, die als Soldaten requiriert werden, haben ja keine besondere n Fähigkeiten. Schon gar nicht die Fähigkeit, so nüchtern und kühl und kaltblütig zu agieren, wie es ein Heckenschütze tun muß.

Mit den Schußwaffen ging ab dem späten Mittelalter nämlich auch das Massenheer einher. Die Schußwaffe war anonym, und (im Vorläufer der Armbrust) sogar von der Kirche verboten, vom ritterlichen Ehrencodex verpönt. Sie galt als unritterlich und unedel, der Begriff des Soldaten hat sich also gewaltig gewandelt und ist auf einen "Kriegs-Gewinneffekt" reduziert worden. Aber sie war erfolgreich, das entschied. Der normale Soldat war ja individuell wertlos (der VdZ setzt das nicht einmal unter Gänsefüßchen), er zählte nur als Kalkulationsfaktor im taktischen Kalkül, zu dem Schlachten und Kriege wurden. Der Erste Weltkrieg zeigt das in einer Klarheit, die erschüttert. Angriff - 30 Prozent Erstverluste, macht so und so viel bei neuerlichem Angriff, dem so und so viel Prozent an Verteidigern gegenüberstehen, etc. etc. Welches Denken mehr und mehr die frühere Kriegsführung als Kampf unter Rittern, unter Edlen ersetzte. Wir haben, meinen deshalb manche, schon lange keine Kriege mehr, denn Krieg verlangt Kultur. Wir haben kulturlose, inhumane Vernichtungs- und Auslöschungsmaschinerien.

Dazu brauchten diese Sonderkämpfer (manche nennen sie auch: besonders skrupel- und ehrlose Menschen, der Leser möge selbst entscheiden) aber auch besonders gute Waffen. Im Zeitalter der Pulverwaffen waren das Gewehre mit gezogenem Lauf. Die viel Geld kosteten, und vor allem viel Zeit zur Fertigung brauchten. Das war im Kalkül von Kriegen nicht mehr drinnen. Sodaß man den normalen Soldaten immer nur halbwegs taugliche Massenwaffen mit gegossenem Lauf in die Hand drückte, die so irgendwie feuerten, gab es eben ergänzend noch diese (meist relativ kleine) Sonderschar, die tatsächlich zielen und treffen konnten. Die Masse der Heere wurde nur nach statistischen Effekten und Wahrscheinlichkeiten berücksichtigt, weil sie nur Zahl, Staffage, Kanonenfutter war (bzw. im Laufe der Kriegsgeschichte, vor allem mit dem Aufkommen von Sprengwaffen, also Granaten, Kanonen, Minen, und wie erst mit dem Maschinengewehr wurde.) Spätestens seit Napoleon war das klar, der amerikanische Bürgerkrieg und der Krimkrieg, für uns die Kriege in Norditalien und dann die innerdeutschen Kriege hatten es bewiesen.

Auch Chris Kyle hatte also eine Hochpräzisionswaffe und war an ihr bestens ausgebildet. Gut verborgen, lauerte er wie viele seiner Kollegen im Hinterhalt und wartete, bis sich ein lohnendes Objekt vor das Zielfernrohr schob. Dann wurde es eliminiert. Durch das Zielfernrohr zu sehen wurde zur Haltung, die Welt war nur noch Ziel, nur noch Entscheidung: Gut oder böse? Ohne Prozeß, ohne genaue Prüfung, der Verdacht, ja der Eindruck genügte. Das ist nicht zufällig so formuliert. Um das Geschäft der Heckenschützen ranken sich so manche Legenden, und nicht wenige davon behandeln die moralische Fragwürdigkeit. Man war deshalb in der Auszeichnung von Snipern immer höchst vorsichtig, und die meisten wollten nie Öffentlichkeit. Bei Kyle war auch das anders. Er suchte sie.

Er gab vor, die moralische Frage klar gelöst zu haben. Die in seiner Autobiographie und noch mehr in dem danach hergestellten Film "American Sniper" (Regie: Clint Eastwood, Präsident o. ä. der American Rifle Association) natürlich ebenso eindeutig beantwortet wird: Wir sind die Guten, die Sniper sind die Helden mit allem Recht, die dort sind nämlich die Bösen, die Iraki. 

Man weiß mittlerweile, daß etliche Episoden in Kyle's Buch übertrieben (Kyle verdoppelte sogar die Zahl der Auszeichnungen, die er erhalten bzw. angeblich erhalten hatte), andere glatt erfunden sind. Entscheidend für den Verkaufserfolg aber war, daß Kyle die Größe und Schönheit des freien Amerikaners war, der mit der Waffe in der Hand für Ordnung im Land sorgt. Weil das Gesetz das nicht zu gewährleisten vermag, das durch lästige Gesetze und Rechtsprozeduren gebremst und behindert wird. Also müssen "Gunmen", die Revolverhelden dafür sorgen. Schätzungsweise die Hälfte aller amerikanischen Filme behandelt genau dieses Thema, stellt genau das als "Lösung" dar. Für viele ist es DER amerikanische Mythos schlechthin.

Es ist der jedem gewiß bekannte Traum, alle Ungerechtigkeit (und die ist zuvorderst eine als solche und ganz persönlich empfundene) durch eigenes Handeln und eigene, ja höchste Richter-Macht (Eritis sicut Deus!) aus dem Weg räumen zu können. Die perfekte Utopie, die vollkommene Allmacht. Durch Waffen in unsere Hand gegeben. Denn da gibt es ein unüberwindliches, perfektes Gewehr, von uns selbst hergestellt, das alles trifft, man muß nur an ein paar Rädchen daran drehen, dann ist jede Weltunbill zu überwinden. Die Idealwaffe schlechthin also, die wie im Traum funktioniert, und die weder Ort noch Zeit kennt.

Ist nicht das die Faszination (und die Angst), die von Schußwaffen ausgeht, und die Amerikaner nicht anders empfinden als Araber, die als dieselben Waffennarren ja bekannt sind? Ist nicht genau das der Punkt, den alle Regierungen der Welt fürchten, wenn es um die Frage "Waffenverbote" oder "Individualbewaffnung" geht? Waffe heißt nämlich nicht nur Mittel zur Gerechtigkeitsherstellung. Sie heißt Mittel zum Jüngsten Gericht. Im Film "American Sniper" geht es genau um das. Das macht ihn auch so faszinierend, daß man ihn filmisch kaum zu beurteilen vermag.

Auch der VdZ hat ihn schon mindestens dreimal gesehen, trotz seiner offensichtlichen dramaturgischen Schwächen. Die sind unbedeutend. Das Archetyp ist es, was fasziniert. Es gibt sogar ein ganzes Genre "Sniper-Filme", das von Filmen wie "Shooter" (perfekt besetzt durch Mark Wahlberg) - Selbstjustiz, Jüngstes Gericht in Reinkultur - angeführt wird. Weil es das Archetyp und damit das Bedürfnis gibt, es zu "erleben".

Übrigens ist letztgenannter Kassenerfolg 2007, also unmittelbar nach dem zweiten Irakkrieg entstanden. Auch er hat das Heldentum des perfekten Amerikaners als heilige Mission dargestellt, der die Verwaltung (als korrupt) und überhaupt die Ordnung des Staates feindlich gegenüberstellt. Bestenfalls die höchsten Personen - Präsident - bleiben ideal. (Ein ganz real ganz gefährliches dramaturgisches Schema, übrigens. Will das judenbestimmte Hollywood die amerikanische Ordnung generell weil durch Korruption illegitim geworden überwinden? Heißt es nicht, daß vor jenen die allergrößte Vorsicht geboten sei, die den Kaiser loben, aber das Übel das sie bekämpfen seiner "unfähigen Verwaltung" zuschieben? Frei nach dem Motto "Wenn das der Führer wüßte!"

So weit geht "American Sniper", das ein Märchen rund um einen überragenden Scharfschützen, den das Drehbuch Chris Kyle nennt (und zufällig gibt es einen Mann, der auch so heißt und auch Scharfschütze war), freilich nicht. Es bleibt persönlicher, intimer, staatstragender.


Morgen Teil 2)





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