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Sonntag, 18. November 2018

Die Schatten des Wirklichen in der deutschen Gegenwart (3)

Teil 3)



Dem absehbaren und längst schon (durch Umvolkung und Verdunstung der kulturellen Hegemonie weil Identität) eingeleiteten Zerfall des "Staates Deutschland" in mehrere oder viele Kleingebiete, Regionen und Einzelidentitäten haftet, wenn man das einmal begreift, somit etwas "Natürliches" an. Etwas, das gar nicht anders kommen konnte, weil es ein ideologisches Konstrukt (wie es diese Staatsgründung 1871) war, das einem je spezifisch verwurzelten Volksgemenge aufgesetzt wurde. Daraus muß folgen, daß sich die Gesamtidentität, die nur durch "große Ereignisse" gefestigt und erhalten werden kann (man denke an die beiden Weltkriege; an die Kriegsführungsnotwendigkeit der USA, etc. etc.), die diesen "Staat" durch Begrenzung quasi je neu "schaffen" (weil er sonst gar nicht im Geist der Menschen bleibt als durch Bewußtheit, immer wieder neu zu errichtende Bewußtheit, und das ist eben die Eigenschaft von Positivismen),  daß sich diese "Staatsidentität" notwendig über gewisse Zeit hin wieder auflösen muß. *

Und genau da stehen wir ja heute! Was die politischen Lage der Gegenwart erst so richtig begreifen hilft. Wo die einen das Festhalten an dieser künstlichen Identität ("Deutschland!") fordern, und die anderen sich dieser Künstlichkeit entledigen wollen. Wenn sie auch kein brauchbares Gegenkonzept haben, zumindest nicht darum wissen. Aber unter dieser Perspektive, unter diesem Blickwinkel, löst sich doch etwas von der Verbitterung auf, die beide Lager angesichts ihrer Gegnerschaft zuweilen befällt.

Die historisch-strategische Entwicklung läuft wie das Werk einer Uhr aber genau darauf zu. Denn man muß tatsächlich von einem Ende der Westfälischen Ordnung sprechen. Die somit aus der Zeit heraus in die philosophischen Strömungen eingefügt erkennbar wird, die die europäische Kulturentwicklung seit dem 17. und 18. Jahrhundert zu bestimmen begann. Wo als Wirkung des Nominalismus des auslaufenden Mittelalters heraus die Weichen in Richtung Aufklärung gestellt waren. In der der Mensch nur noch als "animal raionale" begriffen wurde, als "Verstandes-Tier". Das sich ausschließlich durch sein bewußtes "Denken" (das nun nur noch als Rationalität, als mathematische Operation verstanden wurde) als Mensch definierte, und sich diesem Denken gemäß auch in seiner Verfaßtheit jederzeit und beliebig ändern könne.**

Das öffnete auch in der Politik dem Rationalismus Tür und Tor. Und es kam überall zu positiv postulierten Staaten. Denen aber die Verwurzelung in ethnisch-religiös verbundenen, erst so (bzw. aus der Familie heraus) entstandenen Völkern fehlte. Läßt die Kraft dieser positivistischen Behauptung nach - und das tut sie heute angesichts vielerlei Entwicklungen - dann steigen die Menschen wieder auf diese natürliche Basis zurück. Denn nur sie vermag wirklich durch die Geschichte zu tragen. 

Eine noch weitere, größere, umfassendere Sicht macht es also möglich, auch Münklers kleinen "Fehler" zu überwinden (der wohl in seiner Weltsicht per se angelegt ist). In dem er vielleicht zu sehr die Endpunkte der einzelnen Linien in pragmatische Auslösungen stellt. So wenn er sagt, daß es die fast einzige, auf jeden Fall klügste Lösung war, die marodierende Soldateska, die nichts sonst gelernt hatte als vom Kämpfen zu leben, der Kämpfen Beruf war, in stehende Heere zu verwandeln. Denn diese Heere selbst wiederum waren eine andere Konsequenz. Sie waren die Konsequenz des aufdämmernden Zentralismus, der Verwandlung des Staatsbegriffs überhaupt, wie er letztlich durch Frankreich (als erstem zentralistischem Staat Europas) eingeleitet wurde. 

Und dort war das seit hunderten von Jahren vorgezeichnet und hat mit der Herauslösung aus dem Reich - weltlich wie religiös - zu tun. Es war also bereits im 10. Jahrhundert grundgelegt, und nicht zuletzt als Reaktion auf das, was viele heute als Geburtsstunde Deutschlands bezeichnen - unter Heinrich dem Sachsen. Damit wurde die Reformierung als Römisches Reich, als "Weltreich" bzw. "Welt als Reich", in dem auch Frankreich seinen festen Platz hatte, verspielt. Wiewohl selbst noch Kardinal Richelieu von Paris aus eine Re-Integration versuchte, wenn auch von französisch-selbstischen Motiven begleitet.

Denkt man also Münklers Vortrag bzw. das Fazit, auf das er hinweist, wirklich weiter, dann kommt einem das heutige Geschehen (das bereits läuft oder sich wie vorgeschrieben vorhersagen läßt) auf den Weltbühnen gar nicht mehr so fremd und feindlich vor. Aus diesem Erkennen könnte sogar ein Neubesinnen einsetzen, in dem heraus tatsächlich eine Zukunft deutlich wird, die wir uns schaffen können weil müssen. Denn nur das Aktive, das Sinnbestimmte, das eine Richtung nimmt, lebt und ist. Alles andere zerfällt. Es geht also darum, ob wir sie aktiv gestalten wollen, und uns nicht von allem was da kommt einfachhin überraschen lassen wollen.

Ob Herfried Münkler diese Konsequenzen selbst vorhersieht, die Linien weiter verfolgt hat, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Eher bezweifelt es der VdZ. Aber er zeigt Zeichen an der Wand, die so deutlich sind und so viele weiterführende Schlüsse zulassen, daß wir sie ernst nehmen sollten. Denn nur darauf werden wir aufbauen können. Und nur darin werden wir manche Konflikte der Gegenwart überwinden können. Aber auch nur darin werden wir sie überhaupt als zu führende Konflikte begreifen.








*Als einer der stichhaltigsten Belege für die hier vorgestellte These kann die Tatsache herangezogen werden, daß sich weltweit die Regierungen, das Establishment, kurz alles, was sich als "Kopf" bezeichnen ließe, und das sie durch Schul- und Erziehungseinrichtungen mit Nachschub füllt, von den, was sich an geistigen Bewegungen im jeweiligen Volk abspielt, vom gesunden Menschenverstand also, fast vollständig getrennt ist. Ja, diesem diametral entgegensteht. So daß Politik immer mehr nur noch "verhängt", anordnet, sogar heimlich anordnet und die wahren Ziele verschleiert, um den Volkszorn nicht zu sehr aufkommen zu lassen.  Oder das Volk mit dem Schein von Anhörung täuscht (wie durch gelegentliche Anlaßgesetzgebung oder Volksabstimmungen). Während es seine Macht, die es immer natürlich hat, skrupellos benutzt, um den Volksgeist "im Namen des Guten", das nur sie erkennt, zu manipulieren. Nicht zuletzt über den Sprachgebrauch. 

Das zeigt am eindringlichsten, daß die institutionalisierten Staaten und ihre Institutionen nur noch der fiktiven Behauptung und dem Erhalt des nominellen Staatsgebildes dienen, nicht mehr seine eigentliche Gesundheit weil selbstverständliche Einheit aus Volk und Staat hat. Diese Eigenart der Politik ist besonders deutlich eben in Staaten zu erkennen, deren Bestand eine rein positivistische Behauptung ist. Deutschland etwa. Oder die USA. Österreich nicht weniger. In diesen Ländern ist auch der öffentliche Disput ganz besonders eingeschränkt, unfrei und Objekt von Steuerungsversuchen. 

Das ist nicht zu verwechseln (wenn auch nicht ganz leicht zu unterscheiden) mit dem legitimen Bedürfnis einer homogenen Volk-Staat-Einheit, in der die Mehrheitsanschauung im Sinne einer Kultureinheit bestimmte öffentliche und destruktive Meinungsdarstellungen (nicht Meinungen selbst! dafür braucht es immer einen Raum, wo alles, wirklich alles möglich ist, und sei es als Karneval) verhindern möchte. Deshalb ist in unseren seiner Grundlagen fremden Staaten die Forderung nach Meinungsfreiheit innerhalb eines gleichbleiben sollenden Gefüges ein zweischneidiges Schwert, das ist vielen gar nicht klar.

**Kurz gesagt: Unsere europäisch-abendländische Kultur fand im Mittelalter seinen Höhepunkt. Um dann, nach Rückzugsgefechten, Erhaltungskämpfen und Selbstbehauptungsversuchen im Spätmittelalter, ab der Renaissance einen sich mehr und mehr beschleunigenden Abwärtskurs einzuschlagen, in dem sie sich immer mehr zu verfehlen begann. Bis wir uns heute völlig verfehlen. Dann aber muß eine Kultur definitiv zerfallen. Der Westphälische Friede hat somit auf einer Lawine, die bereits talwärts rutscht, noch einmal eine Kulisse zu errichten versucht. Aber es war gar kein Gebäude mehr, denn auf rutschendem Fundament läßt sich nichts mehr errichten. Es war nur "Zeitgewinn".






*161018*