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Donnerstag, 12. März 2020

Der Zwang der Wahrheit (1)

Es ist primär die Sprache eines Volkes, das sein Denken bestimmt, und deren Niveau entscheidend ist, ob dieses Denken, dieses Sprechen, das immer ein allgemeines Sprechen ist, oder ein Sprechen ist, das auf Allgemeinheit ausgerichtet ist, auch das "Fühlen" umfaßt, faßt und in die Wahrheit trägt. Eine Kultur in ihrem Weg zur Reife (sonst ist sie weder Kultur, noch kann sie lange bestehen) differenziert immer mehr aus, was in ihren Anfängen noch amorph in jedem ihrer Mitglieder vorhanden ist. So kommt und so kam es zur Ausbildung des "Berufs des Denkers", als Schriftsteller, als Dichter, als Autor, als Philosoph. 

Der deshalb - mehr noch als der Schriftsteller, der eine Spätform des Dichters ist - immer in ihrer Spät- und Verfallsphase auftritt, weil er thematisiert, was in einer Kultur in ihrer Hochblüte noch allen und allem immanent und durch unhinterfragte Tradition geschützt ist.

Deshalb ist dieses Bild von George Steiner so typisch. Wo der Philosoph zwangsläufig inmitten des bereits Gesprochenen steht. Ohne dieses kann sein Denken niemals "auf der Höhe" sein, weil Denken und Sprache damit immer in einer Korrespondenz zum historisch gegenwärtigen Sprech- und Sprachniveau steht. 

Dieses bereits Gesprochene als bereits Gedachtes ist als Erinnerungsvolumen in Büchern zeichenhaft präsent, das heißt, daß die Buchstaben, die Worte, die Aufschreibungen Hinweismarken auf ontologische Gegebenheiten sind, Bojen die zeigen, daß hinter allem real (und durch alles Faktische hindurch erkennbaren) Vorhandenem "etwas, nämlich dies und jenes, isset", also anwesend, wirksam, deshalb als Wirklichkeit wirklich ist. 

Insofern ist Denken immer auch ein Nachgehen der Grammatik der Sprache. Denn mehr noch als in den Symbolen, die Worte und Sätze und Werke in ihrer Ganzheit (als Bilder) sind, ist das "Dazwischen", das Unausgesprochene sohin, das, was es eigentlich zu denken und zu sagen gibt. Das von der Sprache "umstanden" wird, das bestenfalls in der Dichtung, in der Poesie darstellbar wird und wurde. 

Hat sich also ein Schriftsteller oder Philosoph herausgebildet, dann ist dies nur dadurch real (und wirklich), weil sich in dieser Spezialisierung auch das Lebensfluidum dieser aus allem übrigen Alltagsleben ausgeschiedenen Menschen gebildet hat. In der Selbstüberschreitung selbst werdend, hat er nur die Sprache und das Denken als jenes Material, an dem er selbst zu seinem wahren "Ich" herausgebildet wird. 

Es ist also auch hier nicht der Eloquente, der Sprachgewandte, der Virtuose, der den Schriftsteller und Philosophen kennzeichnet, sondern die ausschließliche Lebensnotwendigkeit, in der er der Sprache gegenübersteht. Nur im Sprechen, nur im Denken wird er zur Welt geboren und nimmt Gestalt an. Verwundbar von allen, die nützlich im Alltag stehen, diesen allen unterlegen und wehrlos gar, muß er auf die Reifen warten, die aus dem Alltag heraustauchen und herausgetaucht sind und begriffen haben, was die Welt wirklich wirklich macht. Und deshalb die Notwendigkeit der Sprache erkannt haben.

Aber auch jene sind recht eigentlich bereits Leidende, an der Kultur Verwundete, die sich zu dieser Sprache heben (oder: neigen, je nachdem, wie man es sieht). Die jene beneiden, die nur ein Kriterium des Alltags kennen, als engstes, eigentlichstes Kriterium der Sprache: Wo das Ja ein Ja, das Nein ein Nein ist.

Morgen Teil 2)