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Dienstag, 17. März 2020

Neulich unter Stalin (2)

Zar Alexander II., auf den insgesamt sieben Attentate verübt wurden, ließ sich einmal im St. Petersburger Untersuchungsgefängnis für eine Stunde in der Zelle Nr. 227 einsperren. Denn er wollte wissen, wie sich die Verurteilten fühlten. Und bei aller Gewalt, die er verwendete, um die anarchistischen und sozialistischen Strömungen in seinem Reich zu bekämpfen, ist dieses System eingebettet in das kulturelle gesellschaftliche Umfeld zu verstehen. Was immer man über die Zarenherrschaft sagen will, man kann ihnen nicht absprechen, daß ihr Bemühen, ihre Regierung und ihr Handeln vom Geistigen her zu sehen, nicht einfach nur Gebot, sondern persönliches, sittliches Bedürfnis war. 

Das sich im Volk fortsetzte, und Rang und Stand und Stellung der Verhafteten auf heute kaum faßbare Weise respektierte. Allein darin zeigt sich ein gravierender Unterschied zur Gewalt, die das sowjetische System seit Lenin, vor allem aber dann unter Stalin, über das Volk kommen ließ. Vor allem aber zeigt sich, wie sich daraus die Entsittlichung des ganzen Volkes ausbreitete, das nur noch den Kopf gebückt zu halten lernte.

Kultur aber bedeutet immer, den Kopf zu erheben!

Unter dem Zaren war es undenkbar, daß etwa ein Offizier von einem ihm rangmäßig unterstellten Mann verhört worden wäre. Im Sowjetsystem war aber genau dies grundlegendes Motiv, in einer Gesellschaft, in der angeblich "alle gleich" waren. In Wahrheit waren nun dem Haß der Subalternen Tür und Tor geöffnet, die alle Möglichkeiten hatten sich an Personen und Gesellschaftsschichten "zu rächen", an die sie sonst nie herangekommen wären. Was lag doch alleine in der Demütigung, im Sadismus einem Adeligen gegenüber, sofern sich später überhaupt noch einer fand (der nicht ermordet oder ins Ausland geflohen war) für Genugtuung! 

Besonders aber im Apparat der Geheimpolizei und der Geheimdienste war dieses Motiv entscheidend für die uferlose Gewalt, die Unmenschlichkeit, für die Entfesselung primitivster Lüste und Triebe, die dort herrschte, meint Alexander Solschenizyn in "Archipel GULAG". Dazu kam die Stellung in der Öffentlichkeit, wo dieses System quer durch alle Schichten gefürchtet war, weil es nicht der normalen gesellschaftlichen Hierarchie eingeordnet war, sondern quer zu dieser auf alle Schichten durchgreifen konnte.

Hier ein "Held der sozialistischen Arbeit", dort ein verdienter Künstler, oder ein hochdekorierter Kriegsheld? Einmal hingeblasen, und weg war er.

Was war es dann doch für eine Genugtuung, wenn ein einfacher Leutnant des NKWD die Frau eines Oberstleutnants der Armee vergewaltigen und nötigen konnte, ohne daß sich deren Ehemann wehren konnte. Wie leicht war es nun doch, überall geachtet weil gefürchtet zu werden. In jeder Versammlung, egal welcher Art, war das Wort des dümmsten Schinders in der Lage, sämtliche Beschlüsse umzustoßen. Kaum war bekannt, daß man einem dieser Systemdienste angehörte, waren die Tore zu allem und jedem weit aufgestoßen, mit dem man das übliche Gefühl für Anstand oder Scham aushebeln konnte.

Wenn einer aber so stark ist, daß er durchaus nicht aufgeben will, alle deine Methoden zunichte macht? Du bist wütend? Tu dir ja keinen Zwang an! Es ist ein enormer Genuß, ein Höhenflug! - deiner Wut freien Lauf zu lassen, außer Rand und Band zu geraten, wo dich keiner aufhält!" Brust heraus und rette sich wer kann! Genau der Zustand ist's, in dem man Priester an den Haaren durchs Zimmer schleift oder an die Decke hängt, dem Mann auf den Knien ins Gesicht pißt, ihm langsam seinen Hoden zerquetscht, der Frau eine Flasche in den Unterleib rammt, daß sie an den Verletzungen später stirbt. Nach der Raserei fühlst du dich als echter Mann! Und fürs Protokoll läßt du dir eine Sekretärin kommen, und die ist hübsch, verlier' also keine Zeit und greif hinein in ihre Bluse. Wegen des anwesenden Bürschleins brauchst du dich nicht zu schämen, der ist kein Mensch, der ist nur ein Häftling. Vor wem überhaupt sollst du dich genieren? Wäre dumm, deine Lage nicht zu nutzen. Dem einen wird deine Kraft imponieren, die anderen werden aus Angst nachgeben. Ist dir ein Mädel über den Weg gelaufen, merk dir bloß den Namen - und sie gehört dir, wohin soll sie denn? Hast du am Weib eines anderen Gefallen gefunden - sie ist dein! Denn den Gatten aus der Welt zu schaffen kostet dich keine Mühe.

Nichts war zu niedrig, nichts zu banal, man kommt beim Lesen der Zeugenprotokolle nicht aus dem Staunen heraus. Der eine will nur die Handschuhe, der andere die Feldtasche, die du umgehängt hast, dem dritten geht es nur um dein Zigarettenetui, welches nur eine Schachtel ist, aber die ist in wunderschönem Purpur gefärbt.  Tausend Weißbücher, schreibt Solschenizyn, würden nicht ausreichen, alle diese Fälle auszuzeichnen. Die Habgier war unermeßlich, das System ein einziges Raubsystem, das sich keineswegs auf kleine Dinge beschränkte. Waggonweise verschwanden Ladungen und endeten in privaten Datschen, scharenweise wurden Frauen requiriert, um Wodkaexzesse mit erotischen Erlebnissen zu garnieren. Man mußte nur darauf achten, daß sich niemand rächen konnte.

Es ist unvorstellbar, schreibt der spätere Literaturnobelpreisträger, daß sich auch nur ein Untersuchungsrichter, auch nur ein Minister dafür interessiert hätte, was ein von ihm verurteilter Gefangener fühlte oder wie er dachte.
Sie sind von Dienst her nicht verpflichtet, ein Bedürfnis nach Bildung, Kultur und tieferen Einsichten zu haben - so bleiben sie denn ohne. Sie sind von Dienst wegen nicht verpflichtet, logisch zu denken - so lassen sie es denn auch sein.
[...] Die Untersuchungsrichter, die waren doch die letzten, an die selbsterfundenen Fälle zu glauben. Sie haben doch nicht allen Ernstes amtliche Konferenzen ausgenommen, einander und sich selbst einreden können, daß sie Verbrecher entlarven? Und haben trotzdem Protokolle zu unserem Verderb geschrieben, fein säuberlich, Blatt um Blatt. Am Ende war's glatt Unterweltsmoral: "Stirb du heute und ich - morgen!"

[...] Sie verstanden, daß die Fälle erfunden waren, und dienten dennoch fleißig Jahr für Jahr. Wie das? ... Entweder sie zwangen sich, nicht zu denken (was an und für sich schon den Menschen zerstört), meinten einfach: Es muß sein! Die für uns Instruktionen schreiben, können nicht irren. 
"Hauptsache, wir kriegen den Mann - um den Fall sind wir nicht verlegen!" Das war in ihren Kreisen ein beliebter Witz, eine stehende Redewendung. In unserer Sprache hieß es "foltern", in der ihrigen - "gute Arbeit leisten". Die Frau des Untersuchungsrichters Nikolai Grabischtschenko (Wolgakanal) säuselte beim kleinen Hofklatsch: "Mein Kolja ist eine tüchtige Kraft. Einer hatte lange nicht gestanden, bis sie ihn Kolja übergaben. Der brauchte nur eine Nacht - und das Geständnis war fertig."

Die Quoten, die Zahlen von Verhafteten waren vorgeschrieben. Und die Gebietsverantwortlichen taten mit viel Phantasie alles, sie zu erfüllen. Daß es keine zu Verhaftenden mehr gab war ohnehin völlig unmöglich.  

Und Stalin selbst hätte es nicht geglaubt. Er hätte IHNEN nicht geglaubt! Weil er nicht glaubte, daß er in einem Gebiet, einer Stadt, einer Armeegruppe plötzlich keine Feinde mehr hätte.

Wird fortgesetzt