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Donnerstag, 12. März 2020

Neulich, unter Stalin (1)

Jederzeit konnte die Staatsgewalt zuschlagen. Denn wenn einem solche Straftaten - Vorbereitung, Planung in Gedanken, Sabotage staatlicher Vorhaben und Absichten ... - vorgeworfen wurden, gab es nicht den Funken einer Chance auf Gegenwehr und Entkräftung. Und hatte die Planung der Leitungsorgane versagt (und das war praktisch immer der Fall), war Sabotage und Ablehnung staatlicher Anordnungen stets brauchbarer, "nachweisbarer" Grund. Bisher war es Willkür der Behörden, die sich aber im Widerspruch zu Gesetzen wußten und diese beugen mußten. Nun war es auch die Willkür der Gesetze. Einen übergeordneten, absoluten Maßstab für "Wohlverhalten" gab es nicht mehr. Was heute galt, konnte in drei Jahren Grund für zehn Jahre Sibirien sein. Wobei zur Feier des 30-jährigen Jubiläums der Oktoberrevolution sogar die 25-jährige Gefängnisstrafe eingeführt wurde.

Noch ehe diese Gesetze erlassen wurden, wurden freilich die Gefängnisse im ganzen Land umgerüstet, und die Zellen durch Stockbetten auf ein Mehrfaches der früheren Gefangenen vorbereitet. Der nun einsetzende Gefangenenstrom wurde sogar den Folterknechten zuviel. Also stieg man auf Gruppenfolter um: Man gab den Häftlingen nur stark Gesalzenes, verweigerte ihnen aber dann das Wasser. Nur wer geständig war, also "zusammenarbeitete", hatte Chancen, auch Wasser zu erhalten. Wer gar Gold ablieferte, das das System dringend brauchte (1937 aber so gut wie keiner mehr besaß, weil es den früheren Mittelstand oder die reichen Eliten nicht mehr gab, und dann noch "im richtigen Augenblick" dessen Besitz gestand) hatte sogar kleine Chancen, wieder frei zu kommen.

Aber noch etwas hat sich 1937 in der Sowjetunion unter Stalin geändert. War bis dorthin die Folter vom Gesetz sogar untersagt, wenn auch trotzdem häufige Praxis, wurde sie nun offiziell als Mittel erlaubt - und damit die Regel bei "Verhören". Solschenizyn beschreibt erstaunlicherweise das, was in der Sowjetunion passiert so: War auch der Hitlerismus und der Stalinismus prinzipiell direkt vergleichbar, so hatte bei aller Härte die in Deutschland angewandte Folter "die Wahrheit" zum Ziel. Wurde sie nicht erreicht, war auch ein erpreßtes Geständnis nicht glaubwürdig, war jemand nicht wirklich Gegner des Regimes und hatte er sich auch in dieser Hinsicht betätigt, wurde das Opfer wieder freigelassen, denn anders war kein Gerichtsverfahren möglich.

Nicht in der Sowjetunion. Praktisch jeder, der in die Gefängnisse eingeliefert wurde, war unschuldig, und die Richter und der Geheimdienst wußten das auch. 1937 Schuld zu finden war kein Kriterium. Hier ging es um die apriori feststehende Vernichtung von Personen, und vor allem von Personengruppen. Das Urteil stand bereits zum Zeitpunkt der Verhaftung fest. Die Vorwürfe waren so gut wie immer erfunden, in den meisten Fällen grotesk bis lächerlich.

Umso schrankenloser waren die Verhörenden in ihren Methoden, umso desinteressierter und peinlicher die Untersuchungsrichter. Es ging um Geständnisse, und um den Verrat von "Komplizen."* Die Gefängnisse quollen über. Aber auch die Platzknappheit wurde eingesetzt. Ein Quadratmeter für drei Personen, man konnte kaum stehen, bekam kaum Luft, oft nackt, manchmal sogar Frauen und Männer gemischt, Tag um Tag, die Notdurft mußte oft in einem überquellenden Eimer verrichtet werden. Durch die wegen der Ausdünstungen, der Körperwärme entstehende Hitze stieg die Raumtemperatur manchmal auf vierzig, fünfundvierzig Grad, auch im Winter. Und wer sich nicht angewöhnte (und das konnten nicht viele), stehend zu schlafen, war schon wegen Schlafnot bald erledigt. Neben dem quälenden Hunger, denn morgens gab es eine wässrige "Suppe" und achtzig Gramm Brot. 

Neben der Ungewißheit, denn manche wurden wochenlang nicht verhört, wußten überhaupt nicht, was los war, und grübelten, was sie falsch gemacht haben könnten, hofften - welch' lächerliche Idee! - auf einen Irrtum. Und fürchteten sich. Folter mußte man gar nicht androhen. Die Geschundenen, die von den Verhören zurückkamen, meist nicht mehr stehen konnten, waren Hinweis genug, was einen erwartete.

Verhört wurde meist nachts. Denn dann waren die Inhaftierten weniger geistesgegenwärtig. Manchmal tagelang, in Reihen, das heißt, daß sich alle vier Stunden die Vernehmenden abwechselten, wieder und wieder mit denselben Fragen begannen, dieselben Scheinprotokolle vorlasen und eine Unterschrift verlangten. Aus den Nachbarzimmern drangen währenddessen die Schreie anderer "Verhörter".

Die Verfahren waren zynisch und vor allem ... unglaublich korrupt. Es gab niemanden in dem ganzen Unterdrückungsapparat aus Geheimdiensten und Gerichten, schreibt Solschenyzin, der nicht im Grunde sogar ganz primitiven Diebstahl im Sinn hatte. Theoretisch gesehen, war dadurch sogar der Schaden für die Volkswirtschaft immens. Weil buchstäblich jeder nur daran dachte, sich zu bereichern. Umso brutaler, umso unfaßbar grausamer wurden die "Untersuchungen" der Inhaftierten, denen in lächerlichen Verfahren absurde "Verbrechen" vorgeworfen wurden, die ein "Geständnis" abrundete.

Aber noch größer, so Solschenizyn, ist der kulturelle Verlust, den Rußland auf unbestimmte Zukunft hin durch das Sowjetsystem erlitten hat. Denn systematisch wurde alles Geistige ausgerottet, alles Kreative ausgelöscht, die Vernunft als Gefahr und Bedrohung unterdrückt. Alles das, was ein Volk trägt und ausmacht, alles das, was auch den Wohlstand eines Volkes als Gemeinwohl bewirkt, war ohne Belang.
Es ging nicht einmal darum, sich einer Ideologie zu fügen. Auch die war unvorhersehbar, und wer heute dachte, wie die vorgegebene Doktrin es verlangte, konnte genau deshalb morgen im GULAG aufwachen. Das System war stattdessen rein auf persönlicher Willkür aufgebaut. Nichts, aber wirklich nichts war berechenbar. Es blieb nur Angst und Vorsicht, nur ja nicht aufzufallen, um allenfalls noch reagieren zu können. 

 Wird fortgesetzt


*Wenn freilich ein Inhaftierter meinte, sich durch ein frühzeitiges Geständnis von der Folter freisprechen zu können, dann hatte er sich in der Flexibilität der Dialektik der Häscher getäuscht. Die immer einen Grund für "Maßnahmen" fanden. Wenn jemand früh gestand, dann hatte er etwa noch mehr zu gestehen, und wollte die Verhörenden darüber hinwegtäuschen.