Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 22. März 2020

Neulich unter Stalin (3)

Aber wäre er nicht auch fähig gewesen zu einem jener Monster zu werden, wie sie Merkmal des Systems waren? Solschenizyn stellt sich die Frage, und er, der viele Jahre das System GULAG durchmessen hat, der es von allen Seiten kennt, kann diese Frage nicht beantworten. Es wäre möglich gewesen, schreibt er stattdessen, und er könnte nicht sagen, was ihn davon abgehalten hat, NICHT in den NKWD einzutreten, nicht einer der Schergen zu werden.

Woher kam sie überhaupt, diese Wolfsbrut im russischen Volk? Ist sie nicht von unserem Stamm, von unserem Blut? Es ist eine grausige Frage: Wäre aus mir ein gleicher Henker geworden, wenn das Leben ein bißchen anders gelaufen wäre?

Denn sie waren als Studenten, als Jugendliche unfaßbar naiv, und voller Hoffnung auf die versprochene, leuchtende Zukunft der Sowjetunion. Sie liefen eben am Tag, mit ihren Fahnen und Parolen der strahlenden Welt des Sozialismus. Die Schergen aber arbeiteten, die Gefängniswagen fuhren in der Nacht.

Und ein Vierteljahrhundert später, hätte man da nicht sagen können: Jetzt aber, jetzt hat man das System durchschaut, von der Folter erfahren, von den rund um uns herum brodelnden Verhaftungen, von den vollen Gefängnissen, den Lagern wissen können. Aber immer noch - nein! [...] Woher hätten wir über die Verhaftungen wissen und warum darüber nachdenken sollen? Daß alle Honoratioren der Gegend abgesetzt, abgelöst wurden - das war uns entschieden gleichgültig. Wenn diese oder jene Mitstudenten über Nacht weg waren, wenn zwei oder drei Professoren verschwanden, was machte es? Wurden halt die Prüfungen leichter. 

Der Kampf gegen den inneren Feind war eine logische Aufgabe des historischen Materialismus, die Vorlesungen sprachen unverblümt davon. Was das aber hieß machte sich niemand klar. Und wie groß doch die praktischen Vorteile waren, wenn man einfach im System blieb?! Warum also nicht dem NKWD beitreten? Das war doch allemal besser als ein kümmerlich bezahlter Lehrerposten irgendwo in einem gottverlassenen Landkreis. Die NKWD-Schulen lockten stattdessen mit üppigen Naturalien und doppeltem bis dreifachen Gehalt. Was hatte wenigstens die meisten auch seiner Mitstudenten, was ihn also abgehalten, was zum "Nicht-Bösen" werden lassen, wo doch alle Argumente dafür sprachen?

Was wir empfanden, hatte aber keine Worte. (Und wenn, dann hätten wir sie aus Angst einander nicht anvertraut.) Irgendwo, nicht im Kopf - in der Brust saß der Widerstand. Von allen Seiten können sie auf dich einreden: "Du mußt!" und dein eigener Kopf ruft im Chor: "Du mußt!"
Bloß die Brust sträubt sich: Ich will nicht, ES STINKT. Ohne mich, wie ihr wollt, aber ich bleibe draußen!

Das kam von weit her, von Lermontow vermutlich. Von jenen Jahrzehnten russischen Lebens, als es für einen anständigen Menschen, offen und laut gesagt, keinen schlimmeren Dienst gab als den des Gendarmen. Nein, von weiter zurück.
Das waren, ohne daß wir es wußten, nur die Kupfermünzen der Kopeken, mit denen wir uns von den vorväterlichen Goldrubeln loskauften, von jener Zeit, da die Sittlichkeit noch nicht als etwas Relatives galt und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse einfach mit dem Herzen getroffen wurde.

Später wird er freilich einmal schreiben, daß er begreifen hat müssen, daß man genau diese Gefühle ablegen muß, will man ein System wie das des GULAG überleben. Man muß alles Menschliche, jedes Gefühl, jedes Mitgefühl mit dem anderen, jede liebende Erinnerung, alles ablegen - man muß zum Stein werden, will man das System, will man die Verhöre, will man den GULAG überleben.

Wird fortgesetzt