Eine interessante Beobachtung nimmt ein Kommentar in der FAZ in den Fokus - die Bewerbung. Aus der Praxis heraus fallen Ulrich Gumbrecht Veränderungen auf, die einen seltsamen Nachgeschmack hinterlassen.
War früher eine Bewerbung eine Schwellensituation, eine Ausnahmesituation, befinden sich die heutigen Menschen offenbar in einer permanenten Bewerbungssituation. Entsprechend routiniert gehen sie damit um. Unterlagen, häufig als Blindbewerbungen verschickt, d. h. ohne konkrete Arbeitsstelle im Visier, sind höchst perfekt gestaltet und vermitteln das Bild eines überperfekten, höchstqualifizierten Menschen. Mittelmaß - das ja doch auf die meisten zutreffen müßte - scheint es nicht mehr zu geben, jeder hat seinen Unterlagen nach das Auftreten eines Stars.* Qualifikationsnachweise sind in inflationärem Ausmaß vorhanden, die Lebensläufe bilderbuchartig glatt, und das Selbstbewußtsein vieler scheint unüberbietbar: die Welt habe ihnen zu dienen, nicht sie der Welt.
Sitzen sie einem dann im direkten Gespräch gegenüber, trifft man durchwegs auf lässig dasitzende Bewerber, die "kommunikationstechnisch bestens trainiert" ihre Trinkflasche auf den Tisch knallen und Notizen machen als würden sie ein Examen abnehmen, und vor allem eines signalisieren: sie sind für alles die beste Lösung, brauchen aber die Stelle nicht. Das Unternehmen sollte sich vielmehr bemühen, sich anzustrengen, um diesen Star für sich zu gewinnen, und seine Entfaltung zu fördern, denn dazu habe der Job zu dienen. Gehalten von einem dichten (staatlich garantierten) Sozialnetz, benötigt der Bewerber niemanden mehr, um seine Existenz zu halten und zu gestalten - sie ist das sicherste, was er hat.** Weshalb sich dieses Bewerbungsverhalten als spezifisch europäische Eigenart darstellt.
Dabei ist die Geschichte der großen Taten voll mit Gescheiterten, mit unsicheren Menschen, die von einem Fettnäpfchen ins andere treten, und mit schwitzenden Händen ihre Vorstellungen herausstottern. Getragen von dem Wissen um den Zusammenhang von Berufung und Beruf.
*JM, seinerzeit Leiter der Statisterie der Wr. Staatsoper, meinte einmal zum Verfasser dieser Zeilen: "Gehe ich von den Unterlagen meiner Statisten aus, habe ich es mit lauter Hollywoodstars zu tun."
**Es wäre zu ergänzen, daß zunehmend auf spezifische menschliche Eigenarten zu achten zum "Diskriminierungsvergehen" wird, die absichtlich zu übersehen per einklagbarem Gesetzesanspruch gefordert werden kann. Diese "Objektivierung" der Beurteilungen fördert in Wahrheit eine technizistische Sicht des Werts eines Menschen für ein Unternehmen, der mit den wahren Erfordernissen längst nicht mehr übereinstimmt, stattdessen die Technisierung der Unternehmensabläufe fordert, die bloßen Ablaufoptimierern "entsprechen" müssen.
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