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Montag, 31. Dezember 2012

Was man nicht hoffen darf

Die Geschichte der Völker ist eine Geschichte ihrer Religion, schreibt Enrico Castelli in "Die versiegte Zeit". Was heute als Geschichte gesehen wird, ist oft nicht mehr als die Geschichte des Gedruckten, intellektueller Kreise. Nicht die des Volkes. Und so kam es zu gravierenden Verzeichnungen.

So sieht man nicht mehr, wie eng verbunden Adel und Bauern und Handwerker früher immer waren. Sie lebten auf die gleiche Weise, und ihr Leben stand gleichermaßen unter "sub specie aeternitatis". Dieselbe Religion verband sie, derselbe Lebensrhythmus, dieselben Werte. Und beide Stände waren in allen ihren Haltungen strikt an die Kirche, an die Religion gebunden. Nur die angenehmere Lebensweise unterschied sie. Nicht einmal, was auf den Tisch kam.

Unsere Geschichte ist also keine Geschichte der großen Ideen, mit denen wir es zu tun haben. Philosophien, neue Ideen, waren  nur einer kleinen Schichte bekannt, die nach heutigen Maßstäben lächerlich kleine Verbreitung und Resonanz fanden. Niemand hätte im 19. Jhd. verstanden, was "Sozialismus" war. Das mußte erst erklärt werden.

Erst die immer dynamischere Entwicklung des Bürgertums als realer Machtfaktor brachte die allmähliche Hinneigung der Lebensweise auf Technik und Abstraktion. Im Handel, im Intellektuellen als Beruf, welcher den Kleriker in seiner Lebensweise nachahmte. Und erst aus dieser Schichte heraus begann sich das Leben allmählich umzugestalten, in Richtung Technik. Der Proletarier entstand, der von der Technik Abhängige. Und von hier ging auch die Beseitigung der Kirche als geistige Autorität aus - von der Lebensweise, die an der Technik sich formte, an der Zeit als allerersten Faktor, nicht mehr an Personen, nicht mehr an natürlichen Rhythmen, nicht mehr am Eigenleben des Individuums. Dieses war bedeutungslos geworden. Technizismus und Verbürgerlichung gehen Hand in Hand. Denn die Technik braucht die Wirtschaft - nicht umgekehrt, schreibt Castelli. Und in ihrer Folge die Städte als Synapse der abstrakten Funktionen.

Die Geschichte der Denker ist die Geschichte der Einsamen, die man da und dort mal bestaunte, aber die ohne Einfluß blieben. Erhielten sie Beifall so wegen ihrer Gewandtheit, ihrer Originalität, wie man Artisten Beifall klatscht. Nur das religiöse Erlebnis hat die Massen in Bann geschlagen. Nur dem Reformator gelang es, in die Herzen der Menschen einzudringen, weil er von der Kirche kam. Und doch waren es mit der Zeit die Ideen der Einsamen, die über die Umwege des Bürgertums - als Wissen - so unabsehbare Schäden anrichteten, die Lebensweise der Menschen zu ändern begannen. Hin zu einer Gefangenheit von den Ereignissen, der Gefangenheit von alltäglicher "Problemlösung" als Optimierung technischer Abläufe, weg von der alles zusammenfügenden, ordnenden Weisheit. Gott ist nur einem durchgängigen Bewußtsein überhaupt denkbar. Wenn sich der Mensch nur noch in fragmentierten Handlungen wiederfindet, und keine Zeit hat davon zurückzutreten, um zu sich zu finden, fragmentiert sich auch sein Bezug zu einem Transzendenten, er verliert das Unwandelbare.

So wird die ultimative Katastrophe zu Anfang des 20. Jhds. erkennbar. Als sich die gesamte Daseinsweise der Menschen zu ändern begann. Noch im 19. Jhd. unterschied sich die allgemeine Lebensweise kaum von der des 10. Jhds. Sodaß der heutige Mensch wirklkich ganz anders lebt als der von 1890. Mit einem herausragenden, historisch wirklich einmaligen Merkmal: dem Fehlen des Eigenlebens. Deshalb ist auch die Hoffnung der Einsamen sinnlos, wenn sie sagen: man wirde mich schon noch verstehen. 

Nein. Denn wenn alles dem Untergang geweiht ist und unaufhaltsam diesem zustrebt, wird er nie verstanden werden. In der heutigen Zweispaltung zwischen Eigenleben und Lebensform und öffentlicher Meinung ist eine solche Heilung des Zusammenwachsens gar nicht möglich. Die Welt des Denkers der Wahrheit ist von der der Gegenwart grundverschieden - sie leben in zwei verschiedene Sprachen. Der Denker der Wahrheit steht mittlerweile außerhalb der faktischen Lebensvollzüge.

Hoffen, schreibt Castelli? Hoffen kann man immer. Nur: Man DARF nicht immer hoffen. Man kann hoffen, wenn sich die Hoffnung auf übernatürliche Hilfe bezieht, Hoffnung auf Gott ist. Aber man DARF NICHT hoffen, daß der Fortgang bestimmter Ereignisse nicht jene negativen Folgen nach sich zieht, die in der Entwicklung ausgereift, absehbar sind.

Es ist unsinnig zu hoffen, daß Innerlichkeit auf magische Weise aus der Äußerlichkeit entstehen könnte, oder zu hoffen, daß ein Gespräch geführt werden könne, wenn Lärm und Getöse den Raum erfüllen und die ausgesprochenen Worte nicht zum andren dringen, Worte, die ein Gespräch ergeben und nicht bloße Mitteilungen sind, die sich auf Raum und Zeit beziehen.

Wenn wir sehen, daß es keinen schlußfolgernden Geist in dieser Epoche gibt, daß der Wartezustand nicht das Resultat eines Schlusses ist, zu dem wir gelangt sind, sondern etwas, das erlitten wird, eine Passion, durch die wir gehen, so muß zugegeben werden, daß die Krise tatsächlich den Charakter der Katastrophe angenommen hat, und daß die Lösung dieser Krise nicht Rückkehr und Wiederherstellung, sondern Erneuerung sein muß. 

Nur in der wirklichen Diagnose der Zeit aber findet sich jenes Feld, auf dem der gläubige Mensch Gottes Hilfe erwarten kann.





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