Zwar fehlt dem Artikel in der FAZ aus der Feder eines seiner Herausgeber, Frank Schirrmacher, ein entscheidendes Argument - es überschätzt auch die inhaltliche Wirkung von Internet-Publikationen, unterschätzt die rein technischen Aspekte, tut also so, als würde es keinen Unterschied machen, im Netz zu publizieren, oder eine Zeitung zu drucken, ganz so als würden Inhalte ohne das Medium möglich sein. Zwar konzentriert sich der Artikel also auf inhaltliche Aspekte des Internetzeitalters, zehn (!) Jahre nach seinem definitiven Beginn in unseren Breiten. Aber dies berücksichtigt, bleibt eine ernüchternde, und darin hervorragende Situationsanalyse der Wirklichkeit des Netzes. Der gegenüber kollektive Blindheit herrscht.
Weil hier ein Mythos von Freiheit, Meinungsoffenheit und Kommunikation geschaffen wurde, der vor allem eines tut: er verschleiert, daß das Internet eine hochperfektionierte ökonomische Maschine ist, ein ökonomisches Modell, das deshalb nur dort funktioniert, wo es den Betreibern wie Google oder Apple sehr konventionelle, reale Gewinne beschert. Während die Apostel der Inhalte, die ihr Bewegen im Netz wie Glaubensinhalte verteidigen, unter gewaltiger und immer weiter ausgreifender Selbstausbeutung als "Contentlieferant" einem Phantom nachlaufen.
Aber es geht im Netz gar nicht um "content", der ist ein Feigenblatt der Gewissensberuhigung, die Karotte, der der Esel nachläuft. Es ist ein riesiger Marktplatz, in dem es vor allem darum geht, alle erreichbaren Aspekte sozialen Verhaltens zu vermarkten. Den Menschen wird vorgegaukelt, sie könnten per Tastendruck Milliarden User erreichen. Während sie völlig untergehen, diese Möglichkeit nur für die Allerwenigsten zutrifft, per Zufall, meist auf ganz konventionelle Weise.
Die vielgerühmte Partizipation beschränkt sich auf das Betätigen der "like"-Buttons und Foren für ihresgleichen, die sich gleichfalls zunehmend einschränken, bis sich nur noch einige wenige selbst bestätigen. Zusammengefaßt als riesige "Zustimmungskultur", die vorgibt, Gemeinschaft zu schaffen, während sie das Gegenteil tut, indem es die Gesellschaft atomisiert.
Stattdessen erleben wir mit unglaublich naiver Zustimmung, wie Informationsgiganten dabei sind, kulturelle Normen neu zu definieren, ohne daß es uns weiter auffällt. Mit Zensur und Informationsangeboten, die in erster Linie von ökonomischen Interessen ausgehen: google bietet nicht die beste Information, sondern die ihm nutzbringendste, Amazon zensiert ungefragt Buchangebote, Facebook Photos und Meinungen, weil man dies oder das nicht tun oder sagen dürfe, Apple schließt Angebote aus, die seinem Moralcodex nicht entsprechen.
Der Verbraucher hat es dafür mit einer Raffiniertheit der Algorhythmen zu tun, der er nie und mit wachsender Wirklichkeitsferne und damit Selbstkenntnis und Welterfahrung noch weniger gewachsen ist und die ihm vorgaukelt, zu finden, was er wolle, ja ein unermeßliches Feld der Entdeckungen vor sich zu haben, das ihn aber nur geschickt gängelt. Google, nicht anders als Amazon, so zeigt die New York Times, hat sogar eine Liste von vierhundert Wörtern, die es in seiner Query nur nach Nachdruck überhaupt suchunterstützt. Und zum Beispiel über "auto complete" die Benutzer gängelt, Gedankenwege und Assoziationen vorgibt oder unterbindet. (Wobei: Ist das ein Ausweg, wenn wie in Australien öffentliche Autoritäten bei der Bestimmung der Algorithmenparameter mitwirken können, weil, die die NYT meint, sollen, weil hier "kulturelle Verantwortung" so deutlich wird? Oder öffnet das nicht nur neue Wege der Gängelung und Gleichschaltung, indem Internetinformation auch noch mit approbierter Autorität behängt und selektiert wird!? Anm.)
Thanks to Silicon Valley, our public life is undergoing a transformation. Accompanying this digital metamorphosis is the emergence of new, algorithmic gatekeepers, who, unlike the gatekeepers of the previous era — journalists, publishers, editors — don’t flaunt their cultural authority. They may even be unaware of it themselves, eager to deploy algorithms for fun and profit.
Schirrmacher in der FAZ weiter:
Die Tatsache, wie wenig gesehen wird, daß die Evolution der neuen Kommunikationstechnologien ihre eigenen emanzipatorischen Ideen praktisch unterläuft, ist das eigentlich Befremdliche der gegenwärtigen Debatte. Es wäre deshalb an der Zeit, endlich zu erkennen, dass wir nicht von neuen Technologien reden - wer, im Ernst, von Einzelpersonen über Verlage bis zu ganzen Staaten, sagt denn, er verweigere sich dem Netz? Wir reden von einer neuen Ökonomie, die zu dem wird, was erstmals im Zeitalter Ronald Reagans fast religiös verkündet wurde: eine Ökonomie des Geistes.
Eines seiner massivsten Opfer ist dabei der Journalismus, der sogar aus seinem eigenen Niedergang einen Hype macht, die er noch glaubt vermarkten zu können. Ganz so, als ginge es im Netz tatsächlich um anderes als um Geschäftsmodelle, um reales Geld, und wer dem nicht folgt, fliegt raus. Das gilt auch für Zeitungen, wie jüngste Titeleinstellungen (Frankfurter Rundschau, Financial Times Deutschland) zeigen.
Nicht nur bei den Verlagen, in fast allen Bereichen geht es um das Verhältnis von Wert und Preis. Selbst kritische Köpfe vermögen immer seltener zu unterscheiden zwischen den legitimen Bedürfnissen des Konsumenten und der Tatsache, dass politische und kulturelle Werte mitsamt dem Inhalt des eigenen Kopfes zu Produkten dieses globalisierten Marktes werden. Netzkommunikation ist längst in der Phase, wo buchstäblich jedes Signal, das man sendet, Gegenstand einer Preisfindung, einer algorithmisch in Millisekundenschnelle ablaufenden Online-Auktion wird. [...] Werbealgorithmen, das hat der Computerhistoriker George Dyson gezeigt, sind heute zusammen mit den Wall-Street-Algorithmen die mächtigsten digitalen Werkzeuge der Welt.
Aber der Mythos von den Möglichkeiten des Netzes wird weiter genährt, unermüdlich, ununterbrochen. Sogar Revolutionen werden als Beleg zitiert - wie Ägypten. Dabei ist längst untersucht und belegt, daß die ägyptische Revolution viele Jahre lang im Untergrund von gewerkschaftlichen Gruppen vorbereitet wurde. Ohne Netz. Die ägyptische Arbeiterklasse war über das Netz gar nicht zu erreichen. Erst in der definitiven Phase des Aufstands spielte das Internet eine gewisse Rolle als Transportmedium.
Dennoch plapperte der Journalismus weltweit diesen Unsinn nach, ja arbeitet fast fanatisch an der Stärkung dieses Mythos mit, indem er Einzelfälle aufbauscht, in denen online dies oder das "bewirkt" wurde. Sich damit aber zum nützlichen Idioten macht, der seine eigene Basis zerstört, indem er zum Anhängsel des öffentlichen Diskurses - wesentliches Forum der demokratischen Gesellschaftsformen - wird, der nur noch Trends nachläuft und genau das Gegenteil von dem erreicht, was er damit zu retten meint: er wird ungebraucht.
Auswege? Auswege scheint es nicht (mehr) zu geben. Wir haben uns dem Netz bereits ausgeliefert, einem Instrument wirtschaftlicher Interessen, das von sehr realen Interessen geschaffen, getragen und verbreitet wird. Auch der Journalismus ist dieser riesigen Scheinveranstaltung Netz auf den Leim gegangen, die mittlerweile so hohen wirtschaftlichen Druck aufgebaut hat, daß sie ihm nach und nach auch seine Publikationsmedien aus der Hand nimmt.
Auswege? Auswege scheint es nicht (mehr) zu geben. Wir haben uns dem Netz bereits ausgeliefert, einem Instrument wirtschaftlicher Interessen, das von sehr realen Interessen geschaffen, getragen und verbreitet wird. Auch der Journalismus ist dieser riesigen Scheinveranstaltung Netz auf den Leim gegangen, die mittlerweile so hohen wirtschaftlichen Druck aufgebaut hat, daß sie ihm nach und nach auch seine Publikationsmedien aus der Hand nimmt.
„Wie kann guter Journalismus überleben?“, fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrer neuesten Ausgabe. Das aber ist nicht die Frage. In einer Welt, in der man sich ausrechnen kann, welche Institutionen von der Atomisierung des öffentlichen Diskurses am meisten profitieren würden, wo Schattennetzwerke in einer Welt angeblicher Transparenz, wie Manuel Castells* gezeigt hat, schneller wachsen als je zuvor, ist die entscheidende Frage: Wie kann eine Gesellschaft ohne guten Journalismus überleben? Jetzt, wo sich leider auch immer mehr Journalisten sich ihre sozialen Prognosen vom Silicon Valley und der Wall Street schreiben lassen, riskieren wir eine ganz einfache und ebenso gelassene Vorhersage: gar nicht.
*Der die Analysen und Vorhersagen von Jacques Ellul ("Propaganda", im Zusammenhang mit "Technology" zu lesen empfohlen) aus den 1960er Jahren vollauf bestätigt: Ellul zeigt, wie sich aus kulturgeschichtlicher Genese heraus - dem Zerfall natürlicher Ordnungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts - eine pseudologische, rationalistische Identität aufbaut, die Propaganda, öffentliche Meinung und Medienzirkus braucht, um im Maß der vorausgehenden wie parallelen Entwurzelung überhaupt noch existieren zu können, als sie ihren Platz im Leben aus dieser Öffentlichkeit heraus definiert, ja fast zu definieren gezwungen wird. Damit aber wird die konkrete Welterkenntnis verändert, weil Sinndeutung (aus Ereignissen, aus Begegnendem) eine Frage der subjektiven Bezüge und Intentionen und damit der Identität ist.
*201212*