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Montag, 24. Dezember 2012

Was wir verloren (1)

Wenn wir der Welt im Alltag begegnen, so zerfällt sie, analysiert man sie in Ruhe, in eine Reihe von immer wieder gleichen Schemata. Der Mensch ist also weit weniger originell, als man heute meint.

Und man meint das, weil diese Schemata mehr und mehr einfach nicht mehr bekannt sind. Denn das, was uns diese Grundformen menschlichen Verhaltens und Weltgeschehens, Weltsituationen, sind die überlieferten Formen. So, wie es in jedem Kinderlied und -spruch vorhanden ist, in den Märchen und Sagen, in Erzählungen und Geschichten, in den biblischen Erzählungen, die weitergegeben werden und immer wurden, in den Liedern die man überall kennt uns singt, in der Literatur, die im wesentlichen dem Streben dient, sich in einer wandelnden Welt immer wieder neu zu verorten. Und es ist ein verorten als Zurückführen auf immer wieder dieselben Grundformen. (Ort - locus - topos - topoi; diese Worte, die hier immer wieder verwendet werden, noch einmal zusammengeführt)

Diese Topoi steigern sich mit dem Lebensalter vom Spezielleren, "Kleineren", wie es eben dem Lebenskreis entspricht, die der älter werdende Mensch kraft Zuwachs seiner Verwirklichungsmöglichkeiten sich erwirbt, zum immer Allgemeineren, ja unter Umständen zur wirklichen Weisheit, weil mehr und mehr vom Begegnenden auf seine immer allgemeineren Grundzüge durchschaubar wird, bis es in immer weniger Wirklichkeiten zurückgeführt werden kann. Bis zum Einen ...

Menschen, denen diese Kenntnis fehlt, indem sie einfach diesen Traditionsschatz, der im wesentlichen und zuallererst im  Mündlichen lebt - im Elternhaus, in der menschlichen Umgebung - , nicht mehr besitzen, stehen also in einer Welt, die ihnen in einem Ausmaß neu ist, daß sie oft viel Zeit, ja vielleicht gar ihr Leben lang, brauchen, um eben das zu entdecken: daß sie NICHT permanent Neuem begegnet sind. Sondern daß es eben nur immer wieder denselben Grundschemata begegnet sind.

Menschen ohne parate Topoi als Lebenskenntnis sind nicht einmal mehr in der Lage, ihre eigenen Geschichten zu erzählen - sie kennen nur noch Ereignisse, wild schwirren die Fakten durch ihre Gedanken.

Hätten sie diese Kenntnis besessen, wären sie rasch oder rascher zu wirklicher Lebensgestaltung gekommen, Hätten nicht so viel Zeit und Energie und Nachdenken dafür verwenden müssen, das Begegnende zu ordnen. Denn Gestalten heißt: ordnen, zu einer Sinngestalt ordnen.

Ja, unser ganzes Sprechen ist ein einziges Vorstellen von solchen Bildern, ein Zitieren von Metaphern, die auf solche Topoi zurückgehen - ohne die es gar keine Kommunikation gibt! (Umso mehr wird ja heute von Kommunikation gefaselt - der dabei aber schon so viele Grundlagen fehlen, nämlich die Allgemeinheit eben von Topoi, auf der nur Verstehen möglich ist.)

Louis Bouyer nennt dieses Menschheitsgedächtnis, das sich in der Mündlichkeit weiter- und weitergegeben hat, nicht urtümlich im Sinne der Zeitlichkeit, sondern im Sinne von grundlegend. In der reinsten Form des Gedächtnisses, den Mythen (so verdunkelt sie auch sein mögen), in denen sich menschliches Wort und Göttliche Offenbarung treffen, ja woraus sie letztlich schöpfen, findet sich menschliche Grunderfahrung in großer Kohärenz. Diese Urerfahrung, die in jedem gleichermaßen vorhanden ist, hat er zu ihr Zugang, geht auf die Verwandschaft von Urbild und Abbild zurück. Weil sich, um auf Michel Henry zu verweisen, im Ich das göttliche Wort - abbildhaft, weil geschöpflich - selbst erfährt, weil es als Logos inkarniert. Diese Mythen dienen also je zeitbezogenem Denken und Sprechen als korrigierende, noch mehr aber seine Struktur formende und die geschichtliche Situation beleuchtende Grundlage. Als meta-logische Denkform, die aller logischen, innerweltlichen zur Basis dient.*

Ist deshalb diese oft so einfache Tradition aufgegeben, verloren, oder verdrängt von nichtssagenden Mündlichkeiten, wie sie die Popmusik, schon gar in fremden Sprachen, oft genug enthält, oder vieles was als Unterhaltung gilt, so ist ein Volk mehr und mehr dazu verurteilt, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Stillstand umfängt mehr und mehr sämtliche Vorgänge des Lebens, die Täuschung aus historischer Formenvariation wird immer umfassender - daß bloße Variation schon Neues bedeute. Ohne zu sehen, daß es längst da war. 

Eine Generation nach der anderen wird tatsächlich dümmer, als die Vorderen es waren. Nichts Vorhandenes wird noch verstanden, umso leichter wird es als sinnlos - eben: weil sein Sinn nicht mehr präsent ist - über Bord geworfen. Die Welt wird ausgeräumt, Altes, Unverstandenes, bleibt bestenfalls noch Objekt des Museums, belächelt und bestaunt.

Wenn man dies vor Augen hat, so fällt vielleicht noch mehr an unserer Zeit auf, daß sie sich pausenlos vor Neuem, noch nie Dagewesenem glaubt. Damit ist auch die Verführbarkeit enorm gestiegen, aber auch die gar nicht bewußte Verführung, die betrieben wird. Indem Unternehmende, Handelnde, tatsächlich  meinen, es  mit etwas Neuem zu tun zu haben. 



Morgen 2. Teil - Der Neuheitswahn steigt aus der Wurzellosigkeit








*Michel Foucault ist sogar der Meinung, daß das wissenschaftliche, weltimmant-verstandesgemäße Denken nicht einmal meta-logisch ist, sondern daß sich das Denken überhaupt nicht von seiner mythischen Grundlage (und damit von Gott) trennen kann. Versucht es das, zerfließt es ins Nichts. Sollte wirklich der Mythos verschwinden, würde auch der Mensch sterben. Nimmt der Mensch das nicht zur Kenntnis, blendet er diese Tatsache aus seinem Denken aus, wird er lediglich das Opfer dieser Grundlagen.




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