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Samstag, 1. Dezember 2012

Merkmal des Niedergangs

Wir machen uns ein völlig falsches Bild, wenn wir meinen, daß der Beginn der Schriftlichkeit im Mittelalter ein Fortschritt gewesen wäre, schreibt Melville Jacobs. Selbst die Rechtsbücher, aus Zweckgründen mit die ersten Verschriftlichungen, waren nie mehr als Kommentare zu lebendigem, vorhandenem Recht gewesen, und das war lebendig in Wort und Geste. Der Beginn der Verschriftlichung war einesteils lediglich als Notbehelf verstanden. Andernteils aber war im 12., 13. Jhd. das Bewußtsein überall vorhanden, daß es einen beginnenden Niedergang markierte. Der den Niedergang der lebendigen Gegenwart der entsprechenden Haltungen im Volk einerseits kennzeichnete, anderseits aber überhaupt erst auslöste und vorantrieb. Denn nach und nach wanderte das Recht nun in die Schriften, und begann sich aus einer eigenen literarischen Logik heraus zu speisen. Die nicht mehr einfach die Logik des Lebensvollzugs der Menschen war.

Schrift ist nicht die logische Folge der Mündlichkeit, beide haben im Grunde nichts miteinander zu tun, und die Schriftlichkeit ist keine Fortentwicklung des Mündlichen. Sie ist ein verminderndes Derivat daraus. Das geht so weit, daß jemand, der zu schreiben versteht, meist gar nicht mehr in der Lage ist, das Wesen der Sprache (als Mündlichkeit, als Akt) überhaupt zu erfassen. Sein Gegenstand ist ein eigener Gegenstand - die Schriftsprache, die sich vom Symbol zum Zeichensystem entwickelte, mit einer eigenen Logik, die sich aus dieser Zeichenhaftigkeit (nicht aus den Sprachinhalten) ergibt. Für bestimmte Gebiete oder Aufgabenbereiche der Sprache (wobei das Zurückführen von Sprache auf grundsätzliche, bloße Zweckhaftigkeit ausdrücklich verneint werden muß) ist deshalb Schriftlichkeit nicht nur ungeeignet und irrelevant, sie ist sogar eine Verhinderung.

Nur in der Mündlichkeit blieb das Weistum der Menschen, ihr gesamter Welthorizont erhalten und lebendig, aus dem heraus alleine Recht, Sitte und Weltdeutung erst verstehbar wird. In der oralen Weitergabe wurde es in einer Ganzheit weitergegeben, die die Schriftlichkeit für sich nicht einmal annähernd erreichte. War deshalb Lesen ohne lautes Sprechen des Gelesenen undenkbar, verdünnte sich auch dieser Bezug nach und nach, auch mit der Perfektionierung des Schreibens durch Vermehrung der Zeichenvielfalt, durch Einführung von Gliederungen und Zwischenräumen, die mehr und mehr in lautloses Lesen möglich machte (weil Sinntransport auch ohne Hören möglich schien). Im selben Maß wurde Sprache als Ganzes aufgelöst, und als direkte Folge entwickelte sich der Rationalismus als völlig anderer Zugang zu Sprache und einem ganz neuen Denken. Wo das Pferd - um ein Beispiel Ong's anzuführen - zum Auto mit Beinen statt Rädern wird.

Mündlichkeit ist also nicht ein Vorstadium einer Kultur, die halt "noch keine Schriftlichkeit hat", schreibt deshalb Walter Ong in "The Presence of the Word". Es ist ihre Essenz, die die Schriftlichkeit - die sich immer auf diese Mündlichkeit bezog, erst von ihr seine Wahrheit und Wahrhaftigkeit bezog - aufzufangen suchte, deren Verdünnung sie aber selbst vorantreibt. Indem sie das Wort selbst abstrahiert, fragmentiert und entwertet.

Mit gravierenden Auswirkungen auf die Interpretation der Heiligen Schrift. Der Protestantismus in seinem "sola scriptura" war nur noch die Blüte dieses Fehlverständnisses, das wesentlich und in vieler Hinsicht mit der Auswirkung dieser Technik in Zusammenhang steht. Ohne entsprechenden Traditionshintergrund muß eine bloße Interpretation der Verschriftlichung (die selbst schon eine Interpretation ist, die des Mündlichen) zwangsläufig zu falschem Verstehen führen.




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