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Sonntag, 23. Dezember 2012

Ohne Milde, ohne Barmherzigkeit

Ehe der Sozialstaat eingeführt war, schreibt Enrico Castelli in "Die versiegte Zeit", war die soziale Tat, die Milde und Barmherzigkeit, eine moralische Pflicht, die jedem Wohlhabende(re)n oblag. Selbst im System der Grundbesitzer oblag dem Eigentümer des Landes die Pflicht, in gewissem Rahmen für seine Untergebenen zu sorgen, gerade in Notfällen. Ohne je sein formales Recht an der Verfügungsgewalt über sein Land einzuschränken. Wenn er wollte, konnte er sein Land auch brach liegen lassen, niemandem Brot und Arbeit ermöglichen.

Man diskutierte die Höhe dieser Pflicht, mit einer besonderen Rolle des biblischen "Zehenten" als Eckmarke, aber es blieb ein freier Akt. Wer dagegen verstieß, war gesellschaftlich punziert und geächtet, galt als fragwürdig, galt nicht als "gute Gesellschaft". Aber nichts hätte ihn dazu zwingen können, kein Gesetz. Zu geben blieb freier Akt. Und es gehört zum Wesen des freien Akts, daß er auch Freude macht.*

Als der Staat sich dieser sozialen Aufgaben anzunehmen begann, begann sich diese Pflicht des Einzelnen aufzulösen. Nun sorgte ja der Staat in Form einer institutionalisierten Wohlfahrt für die Schwächeren. Mit dieser Auflösung der Verpflichtung aber verschwand auch die Milde und Barmherzigkeit aus der Gesellschaft. Was das Gesetz vorschreibt, ist keine freie Tat mehr, beinhaltet keine Freude mehr. Und was gesetzlicher Anspruch ist, verpflichtet nicht mehr persönlich, ja im Gegenteil, macht den Gebenden zum Schuldner. Der Akt wurde zur Technik, zum mechanischen Vollzug.

Es mag sein, daß es heute in unseren Ländern weniger materiell quantifizerte Armut gibt. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, daß materielle Wohlversorgtheit auch die Menschlichkeit erhöht. Es ist stattdessen wahr, daß die soziale Wärme und Herzensbildung aus der Gesellschaft damit verschwindet. Weil Milde und Barmherzigkeit kein Teil der individuellen Vernunft mehr sind, sondern durch das Kalkül ersetzt werden.




*Vermutlich liegt genau darin das Geheimnis der Spendenwut, die jährlich zu Weihnachten unsere Gesellschaften heimsucht: sie sind freiwillige, ein noch möglicher Akt der Milde und Barmherzigkeit, der Freude macht.




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