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Donnerstag, 27. Dezember 2012

Wozu das alles?

Der NZZ-Artikel über die Geschäftsvolumina, die Apps in den social media-Unternehmen Microsoft, Apple, Nokia oder Samsung einfahren, verstärkt weiter den Verdacht, daß die Errungenschaften der neuen Medien in erster Linie in ihrer Implementierung selbst liegen. Wer die Commercials der Hardwarefirmen und Telekommunikationsunternehmen betrachtet, sieht fast ausschließlích Werbebotschaften, die sich mit den Vorteilen dieser Form der Elektroník selbst befaßt. Sie verheißen vor allem jederzeitige Erlösung von Einsamkeit, permanente Möglichkeit zur Flucht vor der Wirklichkeit in vorgestellte Welten, Befreiung von der Schwere des Ortes.

Nach wie vor fehlt dabei eine wenigstens versuchte, realistische Kosten-Nutzen-Rechnung der Digitalisierung so vieler alltäglicher Bereiche, die auch die individuellen wie gesellschaftlichen Folgekosten - aus Umwälzungen individueller Kosten auf die Allgemeinheit, der häufigste Vorgang dabei - mit berücksichtigt. Die berücksichtigt, daß das Setzen auf automatisierte Abläufe (und nur solche sind elektronisch möglich) jeden der sich ihrer bedient auf Gedeih und Verderb abhängig macht, die Freiräume im Handeln immer weiter einschränkt, sodaß wir zu Sklaven von Abläufen werden, die allesamt das Ziel vorgeben, den Tag zu erreichen, wo uns diese Abläufe endlich wirklich entlasten, anstatt ein Problem durch Ableitung auf drei weitere, neue zu lösen. 

Was im Grunde ja auch nur die Art des heutigen Denkens abbildet, das Begriffe durch Begriffe erklärt, bis niemanden mehr interessiert, ob auch nur einer dieser Begriffe überhaupt Erkenntnisinhalt trägt. Content ist ja nach wie vor das große Problem des Internet/social media-Netzes, und daran wird sich mit Sicherheit nichts ändern. Weshalb die Commercials immer dichter gesendet werden, auch auf den social media, um zu zeigen, was man alles doch noch ins Netz stellen könnte. Mutti verschluckt sich? Ach, raus ins Netz, irgendjemand in Bangkok oder Neuenschöpfhausen an der Biehlar wird es schon anklicken.

Und genau so streng riecht es, wenn dem Autor in der NZZ als einzige Errungenschaft der so weitgehenden Durchdringung der ganzen Welt mit social media-Elektronik einfällt, daß das Video Gangnam-Style 850 Millionen mal angeklickt wurde. Während das Hauptgeschäft der Elektronikfirmen im Verscherbeln von Apps besteht, die Apps herunterladen, die Apps implementieren, um Apps zu verwenden, die Apps ... um immer up-to-date zu sein, wenn wieder irgendwo ein Gangnam-Style-Video online ist, das dadurch berühmt wird, daß Apps es herunterladen, um es an Apps via Empfehlung weiterzureichen, die ... bis plötzlich ein nächster Rekord der Klickzahlen am Himmel leuchtet und alle sehen, wie bedeutend die social media für die heutige Gesellschaft sind. Weshalb es noch geeignetere Handgeräte braucht. Weshalb die Wissenschaftsminister, animiert von den unglaublichen Zugriffszahlen, der westlichen Welt die Heranbildung von nach diesen Kriterien zertifizierten Elektronikingenieuren fordern und fördern, die neue Apps entwickeln, um am Puls der Wirtschaft zu bleiben, die Apps verscheuert.

Und so wird es eine solche, schon gar nicht umfassende Faktenabwägung nie geben. Zu verflochten und zu komplex sind die Lebenabläufe. Ein gutes Beispiel dafür, wie Gewißheiten nicht aus Fakten selbst steigen, sondern aus dem konkret gar nicht in dieser Form sichtbaren Erfassen von Grundmustern und -bildern. 

Darf deshalb irgend jemand wieder einmal die gewiß fortschrittsfeindliche Frage stellen: wozu? Für leichteren Zugang, der dann wieder eingeschränkt werden muß, weil sich herausstellt, daß er ZU leicht ist und junge Mädchen dazu animiert, von sich pornographische Bilder zu schießen, die sie dann flugs ins Netz stellen, worauf sie wiederum auf Pornoseiten auftauchen, die nach wie vor 60 % des Funktraffic ausmachen? (Weitere 40 % entfallen ja auf die Unterhaltung über die Zugängigmachung von Internetinhalten und neue Apps, 8 % auf die Vereinbarung von Verabredungen, die nie getroffen werden, weil sie ohnehin kurzfristig noch umgestoßen werden können, dank der Apps, sodaß man sie gleich dem Zufall überlassen könnte)? Während sich alle Welt weiterhin den Kopf zerbricht zu demonstrieren, was man alles mit Apps machen kann, und welche man noch entwicklen könnte, obwohl es niemand braucht, sondern alle es - wie Kinder eines der zahllosen überflüssigen Spielzeuge unter dem Weihnachtsbaum - halt mal ausprobieren, bis sie entdecken, daß da nichts kommt. Außer die Empfehlung eines neuen Apps, zu dem es aber ein neues Handy braucht. 

In einer Welt der Ultra-Verkehrswege und offenen Schleusen, in der sich aber niemand mehr aus seiner schall- und blickdichten Zelle herausbewegt weil alle hoffen, daß neue Apps eines Tages das Leben selbst liefern.





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