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Sonntag, 16. Dezember 2012

Im Zeigen von Pornographie

Was Peter Nadas in einem längeren Gespräch mit dem Schweizer Fernsehen sagt, ist ein ähnlicher, wenn nicht gleicher Ansatz, den der Verfasser dieser Zeilen für seinen Roman "Helena" gewählt hat. Nadas wurde gefragt, warum die Sex-Szenen in seinem Opus Magnum "Parallelgeschichten" so deutlich ausgeführt wurden. Sodaß ihm sogar Pornographie vorgeworfen wurde - ähnlich wie dem Verfasser dieser Zeilen bei seinem Roman "Helena, oder: Das Gute ist was bleibt".

Nadas meint, daß er wie ein Wissenschaftler daran gegangen sei, eine These zu verifizieren - oder zu falsifizieren. Und seine These war, daß die Liebe in Zeiten der Diktatur immer frei bleibt. Aber er habe zur Kenntnis nehmen müssen, daß je näher er die Liebe untersuchte, dies auch in der Liebe nicht der Fall ist.

Diesen nihilistischen Standpunkt freilich - Nadas sieht sich unter dem starken Einfluß von Hegel - kann der Verfasser dieser Zeilen nicht teilen. Die Explizitheit der Sexualität in manchen Passagen sollte vielmehr zeigen, daß die Sache nur auf sich beschränkt keinen Ausweg kennt. Sie enthält aus sich heraus keine Erlösungskraft, sondern macht sogar unfrei. Bliebe man auf diesem Punkt stehen, würde Nadas zuzustimmen sein. Nádas sieht jede Theologie oder Philosophie, die sich - Nádas bezieht es auf Auschwitz - nicht auf diese Erschütterung bezieht, für nichtig. Das erklärt sich deutlich genug.

Aber es gehört eben zum Humanen, zum Menschen, daß sich das Maß seiner Freiheit nicht aus der Beschränkung auf fleischliche Vorgänge definiert, sondern daß das Leben selbst im Maß seiner Geistigkeit zur Entfaltung kommt. Damit wird jede bloße Leiblichkeit einerseits relativiert, sie bleibt nicht alles, wenn auch der Ort der wesentlichen Auseinandersetzung, also keineswegs ontologisch gesehen gleichgültig - sie ist vom Seelischen, Geistigen nicht zu trennen. Insofern ist die leibliche Erlösung das eigentliche Geschehen des Heils, das der mensch sucht, und er weiß in dieser Suche sogar darum, das kann man in ihr tatsächlich sehen.

Auf bloße körperliche, material-objektive Vorgänge reduziert, bleibt von der Liebe aber tatsächlich nichts, nicht einmal Befriedigung, und eine für sich gesehene Sexualität hört nicht auf, zu suchen. Was ihr die eigentümliche Dynamik verleiht - das immer mehr, immer wilder, immer auslotender, immer grenzenloser, letztlich immer zerstörerischer.

Als Kristallisationspunkt geistig-seelischen Lebens aber gliedert sie sich in ihrer rein fleischlichen Natur nahtlos in das ein, was eigentlich erst Leben zu nennen wäre. Das keineswegs in rein materialistischen Vorgängen erschöpft ist, sondern im Gegenteil, diese zum Ausdruck der geist-seelischen Verfaßtheit des Menschen, von dem seine Sexualität sogar ausgeht, macht.

Das zu zeigen sind Nadas sowie der Autor dieser Zeilen denselben Weg gegangen: sich der puren, gewissermaßen wissenschaftlich objektivierten "Realität" des fleischlichen Aktes zu stellen, ihn ungeschminkt vor Augen zu stellen, gerade unter den Blickpunkten, die dem heutigen Menschen vertraut sind. Nádas bezieht darin ja sogar die Homosexualität mit ein. Mit demselben Ergebnis, das sich aus dieser Betrachtung folgerichtig ergibt: aus sich selbst heraus birgt der körperliche Akt keine Erlösung, keine Gemeinschaft, nicht einmal Befriedigung. Für Nádas leben alle Menschen deshalb in Paralleluniversen - parallel.

Aber während Nadas bei dieser Ernüchterung stehenbleibt, fand der Verfasser dieser Zeilen Ausweg und Sinn. Sodaß die pure leibliche Sexualität ihren Weg aus der Unfreiheit aus sich selbst heraus anbietet - indem ihre Ausweglosigkeit erfahrbar wird. Diese Katharsis herauszuarbeiten war die (häufig mißverstandene) Aufgabe von "Helena", die also auch keine Mißbrauchsgeschichte ist, unter der das Buch ebenfalls gerne summiert wurde. Die nämlichen Stellen (bei weitem freilich nicht so ausführlich wie bei Nádas) SIND also nicht Pornographie, sondern sie ZEIGEN und thematisieren das Wesen der Pornographie. Daß der Leser auch Pornographie daraus entnehmen kann, liegt an ihm. Aber wie in der paradoxen Intention wird gerade in der Vertiefung dieser (verirrten, perspektivelosen) Suche nach Inhalt im bloß Körperlichen seine Ausweglosigkeit gezeigt werden.

Wo der Leser die Wirkungen dieser Explizitheiten erfährt, erfährt er somit auch seine eigene Verfaßtheit, in aller Gefährdung zur Unfreiheit, die ja eine Ich-Spaltung ist. Dies soll ihm damit erkennbar werden, indem er erfährt, daß er sich zu sich selbst verhalten kann. Daß Sexualität nicht einfach für sich steht, in jedem Fall Teil seiner Selbst ist, sondern gerade zum Gegenteil werden kann: Ort der Selbstentfremdung weil Wesensverfehlung. Die vielleicht wesentlichste Erfahrung in der Diskussion um die Rolle der Sexualität. Nádas lehnt ja, als Hegelianer, dieses Wesen als Eidos, als zu Erfüllendes, als allem Menschen Vorausgehendes, ab, es ist ihm (wie heute meist) relativ, bloß historisch definiert. Darin unterscheidet sich seine Sichtweise fundamental von der des Verfassers von "Helena".

Nur geht Nádas nicht über das Faktische hinaus, die Welt ist in ihm ausdefiniert. Ja, er stößt mit der Nase auf etwas, das ihm entgeht: Gerade in diesem In-sich-bleiben der körperlichen Welt, das sich mehr und mehr steigern muß, zeigt sich die deutlichste Parallele zum Judenvernichtungswahn des Hitler-Regimes! Je mehr die Situation Deutschlands gefährdet wurde, je näher die Endkatastrophe rückte, desto exzessiver wurde der Fanatismus der "Endlösung". Die Vernichtung der Körperlichkeit der Juden, die aber das entscheidende Problem des Hitler-Regimes nicht lösen konnte, wurde in dem Maß grenzenlos, als die Kriegslage aussichtslos war. Die Lösung lag also nicht im Körper!

Freilich, in diesem durchaus "brutal-realistischen" Aufzeigen ist dieser Weg beider, Nádas' wie des Verfassers dieser Zeilen, auch höchst aktuell. Er scheidet sich aber am entscheidenden Punkt - dem Horitziont, in den dieses Faktische hineingestellt wird. Nádas zeigt sich darin als Materialist, als Nihilist. Der das Geheimnis des Lebens selbst zwar darstellt, aber nicht enthält. Sodaß auch die nur so definierte Liebe, als momentanes, dabei höchst ambivalentes Gefühl er Hinneigung (mit dem Bereich des Eros), nicht ausreicht. Nicht zufällig ist Nádas ja auch Photograph, und er sagt, daß Erkennen vom Sehen ausgeht.

Nein, gerade darin widerspricht er sich, ohne es zu merken. Wo er im Gespräch mit dem SF sogar holpert, als er den Menschen damit den Tieren erst gleichstellt, um dann dem Tier doch selektive Wahrnehmung beizulegen. Doch also das Licht dem im Sehen Erkannten vorausgehend?

Das was etwas wirklich ist, ist durch seine Haut, seine Kontur nicht bestimmt. Das rein Leibliche weist nur auf etwas Dahinter hin - das Wirkliche. Und das Wirkliche, das ist für das Auge unsichtbar. Deshalb ist auch das, was im sexuellen Akt passiert, etwas anders als der physikalisch-chemische Austausch von Körperflüssigkeiten, und kein technisch hervorgerufener Orgasmus der Welt vermag die Erfülltheit von hingebender Liebe auch nur annähernd zu bieten. Das Fleisch, schreibt Michel Henry einmal sogar, ist unsichtbar. Was wir sehen ist etwas, das wir mit Leib verobjektivieren, zu einem Gegenstand der Physik machen. Aber seine Wirklichkeit ist ganz anders, jede Leiche erzählt das. (Weshalb jede Pornographie, wenn sie nicht durchbrochen wird, immer mehr den Schaden des Objekts sucht.)

Man sieht dieses wirklich Wirkliche aber nur im Maß der Freiheit des Geistes, und dessen Intentionalität - führen wir hier ruhig das Wort "Herz" ein - ist kein Erkenntnisverhinderungsgrund, sondern Tor der Erkenntnis: als Hinneigung und Suche des Einen Wirklichen, in dem alles enthalten ist, als Suche seiner Heimat, seines Ziels - dem Bestand, der Ewigkeit als Wirklichkeit. Wo die Rolle der Wahrheit einsetzt, die sich auf die Verfaßtheit der Welt als Fleischwerdung des Logos, des Sinns selbst bezieht.* Der für Hegel ja auch nur historisch relativ ist.

Denn nur in der Selbstergreifung, im Geist, im Selbstbesitz als Ganzer, in Leib und Seele in einer Ordnung und damit Ganzheit, kann der Mensch dann auch Erlösung (auch und gerade der Körperlichkeit, die in ihrer Dynamik in die Gesamtordnung des Ich eingegliedert, nicht losgelöst, innerweltlich wie abgetrennt vom Ich verselbständigt ist, was ja das Wesen der Unfreiheit ist) weil Gemeinschaft - im Geist der Wirklichkeit, im alles Umfassenden, dem Einen, dem Ort der Ruhe - finden.


Hinweis: Blogeintrag aus 2011: Robert Spaemann, "Nur das Unsichtbare ist sichtbar"



*Das Eigentliche der Dinge ist ja ihr Sinn, das was gesehen wird - es ist ihr Sinn! Sinnlosigkeit sieht buchstäblich nichts. Was soweit geht, daß Menschen, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr erkennen, aufhören, wahrzunehmen. Der Verfasser dieser Zeilen kennt sogar jemanden, der organisch erblindete, als er meinte, sein Leben hätte keinen Sinn mehr, nur noch sterben wollte. Er hörte auf zu sehen. Erst kann der Mensch sehen, dann kommt das Auge. Erst kann er hören, dann kommt das Ohr.



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