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Dienstag, 18. Dezember 2012

Unbehagen an Europa

Drei lesenswerte Beiträge finden sich, zwei auf The European, einer in der NZZ ergänzt das dort Gesagte auf seine Weise. Der Bericht über die "Zeitenwende" in Asien aus der NZZ, der zum Schluß noch angeführt ist, ergänzt nur die übrigen beiden Artikel.

Im ersten des The European geht Richard Schütze der Tatsache nach, daß Europa für den Rest der Welt vielfach bereits ein abschreckendes Beispiel einer Entwicklung darstellt, die die eigentliche Lebensfreiheit im Namen zahlloser gesellschaftspolitischer Experimente bedenklich abgeschnürt hat. Die Sezessionstendenzen Großbritanniens drücken das deutlich aus. Die Briten hatten historisch bedingt immer einen weiteren Blick, noch heute sind die Artikel der Encyclopedia Britannica oft genug befreiend, weil sie kontinentaleuropäische Sichtweisen erfrischend relativieren, in einen globalen Deutungsrahmen stellen. Weshalb auch britische Historiker sogar heute noch durchweg lesenswert sind. Aber in den USA gilt die europäische Entwicklung zu einem dirigistischen, obrigkeitskontrollierten, unfreien Gesellschaftssystem bereits als abschreckendes Beispiel: SO wollen wir ja nicht werden!? Nicht einmal Obama.

Der zweite schlägt in dieselbe Richtung, sein Widerspruch ist  nur scheinbar: Er FORDERT die Bereitschaft zu Experimenten ein, aber er fordert sie als mutiges Aufnehmen der Wirklichkeiten mit der Bereitschaft, die Wirklichkeit zu rezipieren WIE SIE IST, ergebnisoffen, und als Lebensgestaltung. Alexander Wallasch stellt konserniert fest, daß sein Bedürfnis nach Lebensneugier zunehmend mit dem Lebensgefühl und Denken seiner Umgebung kollidiert.

Früher war Gemeinschaftlichkeit ein logisches Resultat ähnlicher oder gleicher Lebenserfahrungen und -haltungen. Heute ist nur dort noch Gemeinschaft zu finden, wo die Menschen bereit sind, einem von oben diktierten Ansichtenkonsens beizutreten, der alles, was seinen Platz aus dem Leben heraus hat, durch das Wertesieb politisch erwünschter, vor allem vermeintlich systemstabilisierender Ideologien gepreßt wird. "Keine Experimente" als Bekenntnis selbst Alt-68er wie Fischer oder Schröder, wird damit zur Keule der Starrheit, wo man sich nicht mehr zu rühren wagt, weil man gar nicht mehr sicher sagen kann, welche Faktoren uns mittlerweile bestimmen. Die bloßen Notwendigkeiten eines um jeden Preis zu bewahrenden Markt- und Wohlstandsgeschehens? Konzerninteressen, oder ideologische Programme, deren Herkunft und Wirkzusammenhang den meisten gar nicht mehr klar ist?

Selbst wer Religiosität will, hat es nicht mehr mit natürlichen, selbstverständlichen Lebensvollzügen und Alltäglichkeiten zu tun, sondern trifft auf in fensterlosen Holz- und Betonbunkern hysterisierte Freigeistgemeinden, die sich ihre eigene Kirche machen. Religion nicht mehr per Geburt, sondern als Bekenntnis zu einer Kirche, die einem in den Kram paßt und jene Hoffnungen zu Illusionen auffängt, die das erstarrte Leben selbst nicht mehr hergibt.

Tauf mich neu, also bin ich neu. Aber das will ich nicht sein. Stadtteilfeste, scheinheilige Jack-Wolfskin-tragende Männlein mit umgeschnalltem Känguru-Portemonnaie und Sigg-Flasche als Penisersatz. Der neue Samenerguss heißt Apfelschorle. Und dann natürlich Facebook. Der Ort, wo das alles dann auch noch in jedem hässlichen Detail gelikt und tausendfach geteilt wird. Ein schmutziger Ort, ein Hort des Infantilismus und der ewigen Wiederkehr ein und desselben Standpunktes – nicht geschliffen, sondern einfach nur abgeschliffen.

Während man also "oben", als Medien- und politische Öffentlichkeit und damit als "gesellschaftlicher Konsens" propagandisierte Meinungsfront wahrnimmt, fühlt sich derjenige, der ganz einfach sein Leben, nach seinen Ansichten und Gutheißungen gestalten will, zunehmend einem erdrückenden Felsen gegenüber, dem er nicht beitreten kann und will. Die schaltet und waltet, wie sie gerade will, und Schicksal einfach verhängt.

Der einfachhin verhängte Euro, mittlerweile als dramatische politische Fehlentscheidung erkannt, wurde zwangsläufig zum Dogma, weil der Ausstieg daraus fast unmöglich ist. Mittlerweile diktiert diese Gemeinschaftswährung aus ihren Erhaltungsnotwendigkeiten praktisch das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschehen des Kontinents. Nationale Entscheidungen sind bis zur Unmöglichkeit beschränkt, ganze Nationen handlungsunfähig. 

Insgesamt also das ungute Gefühl, dass da eine Gesellschaft entsteht, die man so nicht will, aber deren ungehemmtem Wachstum man machtlos gegenübersteht. Die Diversität der Gesellschaft ist verloren gegangen. Fehlende Authentizität ist sogar ihr neuer Treibstoff. Und die Demontage einer vernünftigen Dialektik der Scharfrichter. Verlogenheit, Selbstzufriedenheit, Lustlosigkeit – die neuen Sünden im modernen Sündenregister stehen den altehrwürdigen in nichts nach. Gedeckelt wird das Ganze mit einem lutherischen Eifer, der zu nicht mehr führt, außer zu Bespitzlung und Denunziation einer falsch entsorgten Mehrweg-Bierdose. Ein großer Nihilismus, denn wo sollen die Werte sein, wenn nichts über das eigene Wohlbefinden hinausgeht? Verliebt in den eigenen weichgespülten, spaßbefreiten Zynismus.

Wallasch sieht dies aber in einer ungebrochenen Entwicklungslinie eines Landes, das in Wahrheit nie über seine Wege entscheiden konnte und wollte. Beginnend mit einer nachkrieglichen Auseinandersetzung, deren Ergebnis auf jeden Fall feststehen mußte: Schuld. Damit war - eingepreßt in die Frontlinie des Kalten Krieges (von einer Kriegssituation in die nächste, also) - wie ein Geburtsschaden jeder Zukunftsweg bereits vorgezeichnet und festgezurrt, eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Geschehnissen und Zusammenhängen selbst des Hitler-Traumas gar nicht mehr möglich, und ist bis heute ausständig. (Entsprechend kommen die Geister über Hintertreppen wieder auf die Bühne; Anm.) Nur Wohlstand war und ist oberster weil kollisionsfreier Wert, darin kann jeder Selbstbesinnung, aus der heraus Leben und Zukunft aber erst gestaltet werden könnte, aus dem Weg gegangen werden.

Mit etwas Vorsicht, aber in seiner Grundstimmung das bereits Gesagte beleuchtend, wenn auch vielleicht anders als der Schweizer Autor meint, findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung ein Bericht über Asien. Der von einem dort herrschenden Optimismus berichtet, der Europäern gar nicht mehr verständlich sein dürfte. Was dort in den letzten drei Jahrzehnten auch an rechtspolitischen, gesellschaftlichen Entwicklungen passiert sei, so die NZZ, sei beispiellos. Man verstehe die Welt nicht mehr, wenn man von Asien nach Europa komme, angesichts der dort stattfindenden Zeitenwende. Die viele Milliarden Menschen, die Mehrheit der Menschheit, in Optimismus und Aufbruchsstimmung vorfindet. Europa hat seinen Lebensmut verloren, und dümpelt unter Katastrophenszenarien dahin, die es sich selbst als Wolken der Horizontverdunkelung verhängt hat, und die damit mangels Realismus seine Chancen verstreichen lassen.




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