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Dienstag, 25. Dezember 2012

Was wir verloren (2)

2. Teil - Der Neuheitswahn steigt aus der Wurzellosigkeit




Natürlich wird das Entsorgen der Tradition, und damit der vorhandenen Kultur, vielfältig gerechtfertigt. In unserer Zeit vor allem durch eine Wissenschaft, die ganz genau auf derselben Verkennung der Welt beruht - und wie ein Abstinenter, der vom ersten Achterl betrunken wird, meint sie, daß sie eine neue Weltbegründung entdeckt. Badet in Pfützen, und meint, den Ozean zu erfahren - weil es von diesem letztlich umgeben ist, nur ihn nicht kennen will.

Wie viel wurde noch in der Kindheit des Verfassers dieser Zeilen geredet, erzählt, vorgelesen, rezitiert. Wir glücklich weiß er sich heute, weil er bereits in jugendlichem Alter war, als der erste Fernseher in der Küche aufgestellt wurde, und selbst da nur mit wenigen Sendungen und Stunden, an denen er lief. Wieviel hat er gehört, an Gedichten, an Geschichten, an Märchen, an Sagen, an Balladen und Moritaten, die ihm die Wechselfälle des Lebens vorstellen. Wie unbezahlbar all die sonntäglichen Familientreffen, an denen man die Lebensgeschichten von längst gestorbenen Verwandten hörte, wo die Welt und die Schicksalsfälle der Umgebung besprochen und durchgedacht wurden. Selbst die spätere Medienüberflutung war somit einordenbar. Und das wirklich Neue bereichernd, weil so viel bereits ausgesondert und geordnet werden  konnte. Nicht als Neues erschien und gedankliche Unruhe auslöste, die es zu bewältigen galt, weil es ja gar nicht neu war. Gerade die Weihnachtszeit, zu der sich oft große Verwandtenkreise einfanden, war diese Zeit der Geschichten.

Kein Medium kann das ersetzen, keine social media, kein Facebook und kein Fernsehen on demand, keine Märchenkassette, und auch kein Zeitung und kein Magazin. Wo alles sich nur noch am Bekannten orientiert, alles sich am Stand dreht, ja einengt, genau dadurch. Es ist nicht einmal "mangelhaft" - es ist etwas völlig anderes! Nur die persönlich weitergegebene Erfahrung und Weltkenntnis - begleitet von der persönlichen Einschätzung der Menschen, mit denen man zu tun hat - in seiner "Andersheit" (denn der Onkel erzählte anderes und anders, als die Mutter, oder der Freund) vermag den Menschen so zu verorten, daß er weiterschreiten kann, wenn er ins Leben hinausgeht. Das Wesentliche ist nämlich nicht der Inhalt des Weitergegebenen (der bleibt Verweis) - das Wesentliche ist der Akt, das Ereignis, das ein Ereignis der Weltverortung, ja deren Liturgie ist - die Zelebration des Sprechens ist es, die verortet! 

Und damit berühren wir das, was Michel Henry meint, wenn er schreibt, daß menschliche Sprache sich im Letzten auf die Lebensselbsterprobung zurückführt - auf das Wort des Leben selbst, das alle menschliche Sprache trägt, so verschüttet in oberflächliche Schichten des Bedürfens diese auch sein mag. Ort, Topos und Leben berührt sich also zutiefst, und im Darstellen wird Weltordnung dargestellt, die den Hörenden hineinnimmt.

Wieviele derjenigen Probleme, mit denen wir heute scheinbar zu tun haben, wären dann rasch als eben solche Scheinprobleme erkannt. Weil in ihnen Topoi erkennbar sind, die nicht mit nervösem Blick alle Stunden auf die Nachrichten starren läßt, als könnte sich die Welt jeden Moment wirklich auf den Kopf stellen. Die nicht glauben läßt, jeden Augenblick könnte ein Wissenschaftler so gravierend Neues entdecken, daß unser Weltbild umstürzen würde, weil auch Wissenschaft - nur weiß sie es meist nicht mehr - nur auf der Grundlage solcher Topoi forscht.

Die begreifen läßt, daß der Weltenlauf ein einziges Ringen darstellt. Nur die Gestalt dieses Kampfes wechselt, auch das Heute aber ist eingegliedert in ein großes Ganzes, das von einer gleichen, aber unerschöpflichen, nicht eingrenzbaren Tiefe, Basis her genährt wird und sich zeitlicht. In den Erzählungen wird mit der fremden Geschichte also unsere eigene Gegenwart miterzählt. Ja, was man alten Geschichten oft vorwirft, sie seien Kompilationen, die mit der Zeit abgeschliffen und verändert worden wären, ist gerade der Ausweis auf ihren immer gleich aktuellen Kern, der mit der Zeit nur noch weiter und wahrer erfaßt und gesehen wurde - und sich in je historischer, konkreter Gestalt wieder und wieder zeigt. Deshalb von konkreten Erzählungen auch nicht getrennt werden kann.

Verschriftlicht, indem und nachdem es sich wieder und wieder in unzähligen Menschen durcherprobt und geläutert und erweitert hat, sodaß jede Schriftlichkeit sich nur als Verweis auf die lebendige Mündlichkeit - Wort als Tat, als Ereignis - verstehen kann. Wo real Vergangenes als immer Gegenwärtiges, in seinen Topoi, erkannt wird.

Stattdessen begegnet man erschreckend häufig Menschen, die wirklich meinen, ihr Leben wäre außergewöhnlich und "neu", entzöge sich jeder Beurteilung und jedem Gericht - und nur nicht sehen, wie armselig sie in oft einfachste und oberflächlichste Muster verstrickt sind, die ihnen einfach fremd sind.

Welcher Verarmung stehen wir da bereits gegenüber, in so gut wie allen Bereichen des Lebens, in der Kunst nicht anders, als in der Berufswelt oder an den Universitäten, und wie furchtbar erst in der Politik, die umso mehr und umso hektischer und gewaltsamer herumregeln zu müssen meint, als sie gar nicht mehr erkennt, was wirklich ist, diese Wirklichkeit deshalb ignoriert, ihre Bruchstücke zu einer neuen Definition von Realität verklittert.

Es läge nur an uns, diesen Rückstand, den wir bereits in so erschreckendem Ausmaß haben, Schritt für Schritt wieder aufzuarbeiten. Noch hätten wir so viele Möglichkeiten, gerade jetzt, gerade jetzt zu Weihnachten, in den Tagen bis Neujahr, einen Neuanfang zu setzen. In Geduld wieder aufzubauen, was wir einst bereits hatten. Dann wird, vielleicht, eines Tages auch wieder ein Voranschreiten der Kultur möglich. Wenn wir erst einmal kennen, was bereits bekannt war. 

Andernfalls werden wir eines Tages an einem Punkt Null stehen, wie wir ihn uns heute gar nicht vorstellen können. Er steht schon ganz nah, er wartet schon vor der Tür, sehen Sie nach. Aber Vorsicht!





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