Aber auch der atonale Komponist erlangt gerade dasjenige nicht, wonach er mit allen Kräften strebt - die absolute Autonomie. Seine "neue" Freiheit vermag sich nicht aus sich selbst zu konstituieren. Denn in und aus sich selbst ist sie - gemäß ihrer Selbsteinschätzung - nichts vorgängig Gestaltetes, das heißt Indifferenz bzw. "Nichts". Da aber aus Nichts nichts kommen kann, bedarf sie eines Anderen - des "Alten" - , um sich in der Negation desselben hervorbringen zu können.
Damit aber ist und bleibt sie konstitutionell abhängig. Und das bedeutet: Die zum Zwecke der Vermeidung von Tonalitätsstrukturen ausgedachten "streng rationalen" Organisationsregeln sind von Beliebigkeit durchgriffen*. Sie finden keinen Seins- und Sachkontakt zu dem, was sie "organisieren" sollen.
*Die völlig durchkonstruierte Musik erweckt deshalb beim Hörenden den Eindruck des Chaotischen. Anders als in tonaler Musik sind 'wahre' und 'falsche' Töne nicht mehr zu unterscheiden, nicht einmal mehr vom Komponisten selbst. So berichtet ein Klarinettist der Berliner Staatsopernkapelle, er habe erst nach der öffentlichen Aufführung von Schönbergs 'Pierrot Lunaire' bemerkt, daß er bestimmte Teile seines Partes irrtümlicherweise, statt auf der a-Klarinette, auf der b-Klarinette (also um einen halben Ton zu hoch) gespielt hatte - und dies nach zwanzig vorangegangenen Proben, bei denen der Komponist selbst zugegen war.
So genannte 'Gehörprotokolle' zu neuer Musik bestätigen dies in gewisser Weise: dreizehn Klavierstücke wurden vorgespielt, eines davon war von Schönberg, die zwölf anderen völlig zusammenhanglose 'Improvisationen'. Von den etwa vierzig Hörern, Dozenten und Studenten der Musikabteilung der Universität in Cleveland fanden zwei das 'echte' Stück heraus, was sogar unter dem der Wahrscheinlichkeit entsprechenden Prozentsatz blieb.
Erwin Schadel in "Musik als Trinitätssymbol"
*130519*
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