Der Leser findet hier die Übertragung eines Textes ins Deutsche, der als Vorwort zu einem kleineren Bildband über den wohl bekanntesten, mittlerweile hoch betagten ungarischen Bildhauer László Kutas und von Mihály Praznovszky verfaßt wurde. Er ist bemerkenswert, und soll Ihnen nicht vorenthalten werden.
Wer ist László Kutas?
Da sitzt mir ein kleiner Junge
gegenüber, der mir ins Gesicht schaut. Natürlich weiß ich, daß
ich es bin, der ihn beobachtet, aber ich stelle fest, daß er es ist,
der mich auffordert, ihn zu studieren. Selbstverständlich mache ich
das, was sonst. Und obwohl ich ihn nicht kenne, erinnere ich mich an
ihn und seine Geschichte. Er muß der junge Mann sein, der in dieser
unvergeßlichen Erzählung eines großen ungarischen Schriftstellers,
der in der Manege eines Zirkus in die Höhe steigt und auf einem
unglaublich dünnen, gefährlich schwankenden Seil seine Geige
hervorholt und jenes Lied spielt, das seit seiner frühesten Kindheit
in seiner Seele klingt. Er weiß, daß jeder Mensch in sich einen
Traum hat, für dessen Verwirklichung er sein ganzes Leben aufs Spiel
setzt.
László Kutas hat den Traum von diesem
Jungen in seinem Clownkostüm und dieser mehrspitzigen Kappe auf dem
Kopf, ließ ihn niedersitzen, seine Hände ineinander verschränken,
und goß ihn dann in Bronze. Den Rest überließ er mir, dem
aufmerksamen Betrachter, der ich die Geschichte um ihn vollenden muß.
Der Bildhauer vertraut mir, weil er darum weiß, daß seine
Skulpturen den Betrachter dazu anregen, zu reden. Nach der ersten
Erfahrung, von einer der Skulpturen von Kutas angeblickt zu werden -
die man als Mischung von Gelassenheit, Überraschung und innerer
Bewegtheit bezeichnen könnte - gelangt der Betrachter auf die zweite
Stufe, wo er der Figur einen Namen gibt, und ein Gesicht
identifiziert, das von einer Geschichte ihres Schicksals umgeben
wird, bis der Betrachter schließlich beginnt, diese Figuren in sein
eigenes Leben, seine Erinnerungen und Träume einzubauen.
In diesen paar Zeilen sind, so habe ich
den Eindruck, alle Schlüsselbegriffe zu Kutas' Leben, Arbeit und
Popularität enthalten. Denn alle seine künstlerischen Werke
unterschiedlichster Größe - einige sind größer, einige kleiner,
einige stellen Einzelfiguren dar, andere Paare oder Gruppen - führen
eine Geschichte mit sich. Sicher, manchmal können wir das Rätsel nicht lösen, worüber eine Gruppe von jungen Frauen, die auf einer Bank
sitzen und miteinander tratschen, gerade redet. Und Männern ist die
Logik ohnehin unzugänglich, die die Gespräche von jungen Frauen
prägt und deren Inhalte so unvorhersagbar macht. Aber László Kutas
versucht es immerhin, solche Situationen zu interpretieren.
Andererseits schafft er es aber immer
wieder, Szenerien uneindeutig zu halten, wenn er etwa kultivierte
Frauen (diesem Adjektiv fehlt leider jedes Volumen und jede
Linienführung) sitzen, liegen oder auf einem Bronzesofa, -diwans und
-couches in so spezifischen und aufregenden Posen sich ausstrecken
läßt. Der Höhepunkt männlicher Sehnsüchte bricht auf, mit dem
jemand diese kleinen Bronze-Venusse umkreist. Wir müssen an dieser
Stelle das Wort Sehnsüchte relativieren, denn wir haben es hier mit
einer Welt unerfüllten Verlangens zu tun, mit einer Welt, die sich
rasch zu einer Welt der Heiterkeit, einer leichten, heiteren
Stimmung, des Humors, der Ironie, des Kicherns oder gar des
herzlichen Auflachens entfaltet.
Ich habe diese zwei oder drei
Frauen bereits erwähnt, die auf einer Bank sitzen. Aber was ich so
richtig an Kutas Statuen genieße ist der Umstand, daß man zu allen
diesen individuellen Stücken ein ganzes soziales Umfeld
konstruieren kann. Etwa wie man es beim Betrachten der kleinen Zimmer
und Stuben bei diesen altmodischen Puppenhäusern tut. In gleicher
Weise können wir mit allen seinen Statuen eine kleine, intime Welt
bauen, eine Welt der Träume. Und hier haben wir den nächsten
Schlüsselbegriff.
Man nehme zum Beispiel dieses kleine
Kammermusikensemble, bei dem wir einmal mitwirken wollten, aber dann
doch nicht konnten, weil uns das feine musikalische Gehör fehlte,
das notwendig gewesen wäre. So daß wir an die Stelle dieses
tiefgründigen Vergnügens, an der Schöpfung von Musik teilzunehmen,
das etwas andere, einfachere Vergnügen setzen mußten, der Musik
zuzuhören. Mit Kutas' Figuren aber können wir uns in die
Vorstellung hineinträumen, daß wir nun doch die Geige spielen, die
Oboe, das Saxophon, oder was immer wir gerne hätten. Und sie spielen
für uns dann unser eigenes Wunschkonzert. So daß man sagen kann,
daß in Kutas' Welt niemand allein bleiben muß, weder die Statuen,
noch ihre Besitzer. Und vielleicht ist das eines der größten
Geschenke, die uns Kunst und Künstler machen können: Daß sie uns
aus einer sehr ursprünglichen Einsamkeit herausholen können.
Von hier ist es nur noch ein kleiner
Schritt zu einem zweiten Schlüsselwort zu Kutas' Kunst, und das ist
das Wort "Liebe". Sogar Menschen, die Kutas nie persönlich
begegnet sind, können diesen Zauber der Persönlichkeit des
Künstlers fühlen.
Er ist eine Art von "Beschenker"
als Künstler, wie ich das für mich bezeichne. Er ist jemand, der
sich in kleine Geschenkpäckchen zerteilt. Er kann nicht
widerstehen, mit jener liebevollen Geste in unser Leben
einzugreifen, mit der er uns ein Geschenk macht. (Wobei gesagt sein
soll, daß es schwer ist ihm nicht "begegnet" zu sein,
nachdem die Statuen mit fixierbaren Bewegungen, wie bildende Künstler
sie verwenden, nach ihm benannt wurden.) Und vor allem mit seinen
Kunstwerken macht er uns diese Geschenke - neben Humor, Begehren und
Ideen verbreiten seine kleinen Statuen Liebe, die Liebe zur Musik,
zum Spiel, zur Existenz überhaupt, und die Liebe zum eigenen Leben,
genauso, wie es der Bildhauer selbst mit seinem vollen Gewicht
macht.
Wie es aussieht, ist sich Kutas dieses
Umstands auch bewußt, und er steht auch offen dazu. Er selbst meint,
daß er während des Tages nur "existiert", daß er aber in
der Nacht "lebt". Tagsüber kann es schon vorkommen, daß
er mit zitternden Händen und größter Spannung der
Enthüllungszeremonie zu einer seiner Statuen entgegenfiebert, die
wieder einmal irgendwo an einem öffentlichen Platz in einer Ecke
Europas der Öffentlichkeit übergeben wird. Aber nachts, da lebt der
Bildhauer - und war nicht die Nacht immer schon jene Zeit, in der der
Mensch seine Träume gelebt hat? Und es sind diese Träume die den
Künstler dazu treiben, seine inneren Phantasien in die Realität
umzusetzen. Denn eine Menge guter Dinge geschehen in der Nacht, die
dann unter den Händen des Künstlers zu Leben erwachen. Um
Geschichten, Begehren, Hoffnungen, aber nicht zuletzt Gebete nicht zu
vergessen.
|
Laszlo Kutas - Frauengruppe; Miskolc (Ungarn) |
Denn in den Nächten, da betet
Kutas zusammen mit seinem Lieblingsautor, Gyula Krúdy: "Gütiger
Gott, gib mir stille Träume und eine ruhige Nacht. Gewähre
mir, ich bitte Dich, daß ich die sirenenartigen Stimmen der Frauen nie in meinen Ohren habe.
Beschütze mich, guter Gott, daß ich den Frauen nicht verfalle." Bis er schließlich, schon im ersten Morgengrauen,
in ungeheurem Tempo alle diese Frauen schafft, ob sie auf
einer Couch sitzen, an einer Bar lehnen, ein Balkongeländer
berühren, ein Fahrrad halten, bekleidet oder nackt sind. Und während er
das macht, betrügt er die ihm nicht so gut bekannte Sehnsucht, die uns dazu drängt, den Frauen doch zu verfallen. Es geht also immer wieder um die Frauen
... Obwohl natürlich Kutas Welt weit komplexer ist, weit
vielfältiger. Und dieses Argument kann jederzeit durch die
dutzenden, lebensgroßen Statuen belegt werden, die überall im Land stehen. Darunter viele
Skulpturen von Menschen, die in der Geschichte und Geisteswelt
Ungarns Bedeutung hatten, oder Büsten herausragender Pädagogen. Und
ich habe dabei noch gar nicht die Medaillons erwähnt, die man mit
Preisen überhäuft und sogar Staatsmännern als Präsent überreicht
hat. Oder seine Erinnerungsmünzen, die er für verschiedenste
Jubiläen in Gold oder Silber angefertigt hat.
Und wir dürfen diese
kleine, ungemein populäre Statue von Mary Poppins nicht vergessen,
die auf dem Ostwind reitend in unser Leben tritt, um es
glücklicher zu machen. Die uns vor Augen führen soll, daß unser
Leben wunderschön ist, und daß das Vergnügen daran kein Ende haben
muß. Daß Gelassenheit unerschöpflich ist, natürlich ebenso wie
die Güte. Und die soll unsere Fähigkeit stärken, bis an unser
Lebensende Kind zu bleiben. Diese zarte, englische Lady ist genau
wie der Ungar László Kutas. Sieht man vom Umstand ab, daß Kutas
nicht verschwindet, ja daß er sich sogar weigert, wieder ins Märchenbuch
zurückzukehren. Weil er für sich die Forderung sieht, Pflichten und
Aufgaben zu erfüllen, die er noch nicht erfüllt hat. Erkennbar daran, daß die Welt immer noch nicht
so ist wie all die Träume, die während der durchwachten Nächte aufsteigen.
Das hat alles aber auch damit zu tun, daß er seinem
Namen gerecht werden will. Übersetzten wir deshalb einmal diesen Namen in eine
Fremdsprache. Denn 'Kut' heißt "Brunnen", und
'Kutas' bedeutet so viel wie "der, der einen Brunnen hat" oder "aus ihm gibt."
Brunnen enthalten ja bekanntlich sonst verborgenes, kühles, klares, lebensspendendes
Wasser - das also, was man im Märchen als "Wasser des
Lebens" bezeichnet. Wir wissen außerdem von je her aus Erfahrung, daß Familiennamen und die Merkmale ihrer Träger nicht selten in vollkommener
Übereinstimmung stehen.
Wir können aber in keinem Fall unsere Namen einfach
ablegen wie ein Kleidungsstück. Wir sind immer auch unser Name. Im Falle Kutas'
strahlt diese Übereinstimmung jedoch in hellstem Glanz.
Glücklich jene, die eine von Kutas'
Statuen besitzen.
Mihály Praznovszky, in "László Kutas"
|
Laszlo Kutas, Harlekin, Bronzeguß - Photo with courtesy Leser U |
| | | |
|
|