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Freitag, 5. Juli 2019

Welt und Liturgie: Raum durch Schall

Wer über Liturgie und deren Entwicklung spricht, denkt meist in großen Gestaltwürfen, zergliedert die körperlichen Bewegungen, die Riten, die gesetzten Gesten. Und er diskutiert über theologische Inhalte in Texten oder über geistige Konsequenzen architektonischer Räume. Eine Frage bleibt aber immer unerwähnt. Dabei ist sie so entscheidend, daß man es als verräterisch sehen muß, daß sie in der Regel wegbleibt. Und das ist die Frage der Raumbeschallung.

Selbst Verteidiger Alter Riten ignorieren das Thema. Und selbst wer den sogenannten "vorkonziliaren Ritus" (vulgo "Alte Messe") pflegt oder besucht, bedient sich scham- und gedankenlos einer Tontechnik, in der der liturgische Raum bis in die letzten Winkel in Dolby-Surround-Qualität beschallt wird. Damit löst man den Raum auf.

Man kann ja die Kritik der Veränderungen im Kult der römischen Katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanum auf einen Punkt reduzieren. Als fehlende, verlorene Ausrichtung auf Gott. Es ist ein völlig verändertes Rezeptionsverhalten dem Geschehen gegenüber, das in Selbstoffenbarung des Transzendentalen und Vergegenwärtigung des eigentlichen Erlösungsgeschehens die Gemeinschaft der Getauften - die Kirche - in das Opfer Jesu Christi hineinnimmt, und somit stellvertretend für die Menschen diese in das innertrinitarische Leben eingliedert, sofern die Menschen in Christus sein und bleiben wollen. Der heutige am katholischen Kult teilnehmende Mensch - und das ist die wesentlichste Veränderung, die durchgesetzt wurde - nimmt an diesem Geschehen nicht mehr in erwartender, distanzierter Haltung teil, sondern er wird animiert, diese Erlösung quasi "selbst" durchzuführen. Diese mißverstandene "participatio actuosa" kann deshalb als subjektivistische Wende bezeichnet werden, und sie ist Dreh- und Angelpunkt auch der sogenannten Pastoral. Der Mensch muß sich als Empfangenden begreifen, weil er nur in dieser Haltung an Jesus Christus teilhat. Und dazu muß er sich an Christus orientieren, auf ihn hin ausrichten.

Wenn wir es bei diesen kurzen Hinweisen belassen, dann aus dem Grund, daß der Schall in der Frage der Orientierung und damit jedes Ortswissen nicht nur eine herausragende, sondern die entscheidende Rolle spielt. Und Schall ist die erste Manifestation von Wort, und damit von Sinn. Es ist Grundlage des Denkens (weit über die bloße Rationalität hinaus, die selbst wieder auf einer vorausliegenden Erfahrungsqualität beruht), und es ist die Grundlage des Geistes, ja ist das Material des Geistes. Gerade der katholische Kult ist sogar in seinem innersten Kern eine Realwerdung als Erlösungsgeschehen über das Wort.

Aber anders als die Optik, anders als der Sehsinn, der auf ein vorausgehendes geistiges Interpretat angewiesen ist - ohne Wort, ohne Geist sieht der Mensch buchstäblich nichts - dem oft eine fast ausschließliche Bedeutung beigemessen wird, anders auch als der Geruchssinn, der im Weihrauch oder dem Geruch des Bienenwachses, auch anders als der reine Tastsinn, ist, bei aller Verbundenheit der Sinne, in der alle miteinander verschränkt sind, ist somit das Gehör der entscheidende Schlüssel auf das, was geschehen macht, einerseits, und die Orientierung darauf zu zur Gestalt macht. Und es ist somit entscheidend für das Erfahren der grundsätzlichen Qualität eines Geschehens, und damit für das Urteil, die Haltung diesem Geschehen gegenüber - die Rede ist also vom Raum als erste und umfassendste Orientierung und Realisierung. 

Jenen Raum, der das Wesen der Gestalten erkennen läßt, weil Raum durch Beziehung entsteht und sich erst über Beziehung als geistige Qualität erschließt. Jeder kann es selbst erfahren, daß das Hin-Hören auf etwas mit einer inneren Haltung der Aufnahmebereitschaft einhergeht. Der Mensch beugt sich sogar vor, wenn er etwas genau hören will, und damit versetzt er sich in eine hohe Aufnahmebereitschaft. Es hat somit größte Bedeutung, daß ein Wort nicht nur erklingt, sondern daß der Hörende mit diesem Wort, mit diesem Ton, mit diesem Schall auch den Ort rezipiert, von dem dieser Ton und dieses Wort ausgeht.

Mit einer Beschallung der Kulträume aber nimmt man dem anwesenden Teilnehmer genau das. Der Ton, der Schall, die Musik, das Wort, das er hört, wird ortlos. Es umgibt ihn zur Gänze, und versetzt ihn damit in einen Zustand der Raum- und damit Beziehungslosigkeit zum Geschehen, nach dem er sich nicht einmal mehr ausstrecken muß, weil es im Übermaß zu ihm herkommt und jedes Raumgefühl auflöst. Damit löst es aber auch die körperlich erfahrbare Beziehung zum Gehörten auf. Genau das, was also prinzipiell notwendig ist, um am Erlösungsgeschehen, das im Heiligen Raum durch den Priester in persona Christi vollzogen wird, teilzunehmen - die Orientierung! - wird damit ausgelöscht.

Jede Veränderung von Architekturen, jede Veränderung im Ritus ist unter diesem Blickwinkel gesehen ... deshalb zweitrangig. Weil die erste Orientierung der Gläubigen, die an dem Erlösungsgeschehen teilhaben wollen, über den durch Raumerfahrung verorteten Schall geschieht. Er bestimmt das erste Verhältnis zum Quell des Tones, der Liturgie. Schlimm genug sind die Volksaltäre, ist die durch sie bewirkte veränderte Grundaussage. Schlimm genug sind die veränderten (im Wesentlichen aufgelösten, verdunsteten) Riten selbst. Aber all das bleibt noch weitgehend potentiell und nicht aktualisiert, wenn das Gehör die Grundorientierung vorgibt - als Ausrichten auf das Geschehen selbst. Das sogar durch die Dichotomie Kult/Worte und Volksgesang eine architektonisch bedingte Grundbestimmung ergibt, in der sich der Teilnehmende (das Volk) vorfindet. 

Wenn man all die sonstigen architektonischen Veränderungen zu Recht kritisieren kann, die noch bedeutender einzuschätzen sind als die Veränderung in den Riten selbst (die so gesehen sogar relativ gering ausgefallen sind), die Raum brauchen und damit der Erkenntnis Beziehungen darreichen, so ist insgesamt die unselige Entwicklung in der Tatsache festzumachen, daß sie immer raumloser wurde. Real aber wird etwas immer erst IM Raum und DURCH den Raum. Sämtliche Veränderungen der Liturgiereform sind als Auflösung von Raum charakterisierbar. Sämtliche Entwicklungen, die man als Auflösung unserer Kultur bezeichnet, sind ... Probleme des Schalls. 

Das Übel setzte an, als Schall zum akustisch-technischen Problem, und Hören zur ins Subjektive eingeschlossenen Ästhetik wurde.

ABER diese Entwicklung hat bereits Jahrzehnte zuvor begonnen, und zwar ganz real. Sie hat in dem Moment begonnen, wo man begann, in den Kulträumen Tonanlagen einzubauen, Verstärkeranlagen zu installieren, Mikrophone zu verwenden, und damit den Raum als erlebbare, formende Größe aufzulösen. Damit haben wir durch eine technische Entwicklung unsere Religion protestantisiert, das heißt: spiritualisiert und entkernt. Und die Erlebensqualität zur psycho-genetischen (also aus der Psyche entstehenden weil hervorzubringenden) Frage gemacht, und damit das Wort ins Rationalistische ausgetrocknet.

Am Beginn stand nicht einfach nur der logos. Am Beginn, werte Herrschaften, stand ... der Ton. Denn er ist die Gestalt des Wortes, und erst DAMIT Welt und Schöpfung. In ihm liegt alles, liegt das Wesen der Welt, das eine Entelechie des Wortes, des logos ist. Im Wort, im Ton wurde somit auch die erste Grundkonstellation ("Himmel und Erde") zur Weltqualität. Als Gott sprach - sprach! - es werde Licht, war dieses Licht deshalb zugleich der Schall, der Ton, den er ausbrachte, weil er damit die Scheidung von Himmel und Erde zur Welt machte. Daraus ist dann alles weitere hervorgegangen, auf ihm hat alles weitere aufgebaut, und was immer später kam - es zielte auf diese erste Konstellation ab. 

Was die Antike noch sehr gut wußte, wofür die Tempel bis hin zu den Pharaonen und ihren Pyramiden Zeugnis ablegen, ist bei uns offenbar in Vergessenheit geraten. Daß nämlich die Architektur die erste und alles weitere umfassende Kunst ist. Und damit hängt in seinem tiefsten Wesen zusammen, daß die Rhetorik der Antike die erste, einzige, umfassendste Bildungs- weil Formungsquelle war. Denn der Ton als innerste Qualität des Wortes - die Musik erzählt es doch ganz deutlich! - ist die erste Ikone des logos. Denn der Ton ist das (fast bzw. zum Teil sogar) sakramentale Symbol jener Urbilder, denen gemäß die gesamte Welt als Beziehungsraum erst zur Welt wurde.

Und auf dem Schall baut deshalb auch die Liturgie, der Kult auf. Er erfüllt weil erschafft im Hörbaren alle weiteren Riten, er tut es durch die Offenbarung von Raum, und damit auch von jenem Ort, an dem Gott uns hingestellt hat, und der unser Ort ist, an dem und durch den wir uns heiligen sollen. Wenn wir aber die Kulträume durch den künstlich verbreiteten Schall ent-räumen, entziehen wir allem weiteren Erkennen den Boden, und nehmen dem Menschen die Grunderfahrung der Welt, die Ort ist. 

Wenn wir die Kirchen also wieder "ent-schallen", das heißt alle diese das Erkennen so überschüttenden, stumm und stumpf machenden Verstärkeranlagen wieder entfernen, werden wir ein wahres Wunder an Wieder-Aufkeimen des Glaubenssinnes erleben, dessen kann man sicher sein. Es ist kein Sekundärproblem - es ist das erste Grundproblem der Ent-Religiosierung der Menschen, die wir erleben. Und auf ihm bauen sämtliche weiteren, sogar die kulturellen/zivilisatorischen Probleme auf, die sämtlich im Umgang mit dem Ton als raumschaffende Wirklichkeit begonnen haben - in einem veränderten Umgang mit dem Medium Wort, dem im Still-Lesen erstmals der Schall und damit die Wirklichkeit des Wortes genommen wurde.