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Montag, 27. Januar 2020

Ein hartnäckiges Gerücht (1)

VW Golf, Baujahr 1975
Man liest es immer wieder, und seine Absicht ist klar, verstehbar und sogar gerecht: Die Ingenieursleistungen in der DDR waren um nichts weniger hervorragend wie im westlichen Bruderstaat. Oft sogar insofern genial, als sie mit weit weniger Möglichkeiten auskommen mußten und deshalb Umwege brauchten, die für westliche Ingenieure gar nicht nötig waren. Über diese Umwege kamen oft genug neue Ideen ans Tageslicht, die jede Anerkennung verdienen. 

Nur eines haben die DDR-Ingenieure nicht gemacht: Sie haben dem VW-Konzern nicht beigebracht, wie das Auto der Zukunft Ende der 1960er Jahre auszusehen habe, und - konkret - den VW-Golf entwickelt. Ein Wagen, dessen Erfolgsgeschichte nur mit dem des Käfers vergleichbar ist. 

Michael Khan geht der Geschichte der Kompaktwagen dieser Art nach, der bis heute einen großen Teil des Kleinwagensektors beherrscht, und damit auch der Geschichte des VW-Golf. Er kommt zu dem recht plausiblen Schluß, daß diese Art von Autos schon überall in Europa in den Startlöchern stand oder sogar schon gestartete Raketen waren, weil es einfach im Zug der Zeit lag. Nahezu jeder europäische Autohersteller kam deshalb Jahre vor dem Golf mit Kompaktwagen ähnlicher Art und Technik auf den Markt, VW hätte den DDR-Golf, selbst wenn er im Osten erfunden worden wäre, nicht gebraucht. Und daß die VW-Ingenieure die Augen offen hatten, was sich so in Europa tat, kann man annehmen. Auch technisch war mit dem K70 alles bereits vorhanden, das später im Golf seine perfekte Kombination fand.

Aber dennoch gibt es diese Legende. Der VW-Golf sei im Autokombinat  VEB Sachsenring in Zwickau entwickelt worden, wo man auch den Trabant baute und nach Neuem sann. Und so kam man auf ein neues Kompaktauto, Zweitürer mit Heckklappe, wassergekühltem Reihenmotor und Vorderradantrieb (schon vergessen? auch das kam in den 1970ern erst so richtig, vorher war jedes Auto heckgetrieben), viel Stauraum (für die bei uns erst jetzt aufkommende Art, in Einkaufszentren und Supermärkten einzukaufen, und außerdem: Um in Urlaub nach Rimini zu fahren, auch das kam jetzt erst so richtig auf), und dennoch nötigenfalls Platz für vier oder fünf Passagiere, trotz der Kleinheit der Außenmaße. Das alles war in der DDR-Version noch auf der Grundlage eines Stahlgerüsts gedacht, das auf die übliche Art mit Plaste-Karosserie umhüllt wurde. Das neue Wagenkonzept war zwar für den Zweitaktmotor des Trabant gedacht, wäre aber mit tschechischen oder rumänischen Motoren jederzeit aufrüstbar gewesen. 

Die DDR-Ingenieure haben bekanntlich ja nie einen brauchbaren Viertaktmotor entwickeln können, so schon vor Jahrzehnten der +Schwager des VdZ, Gott hab ihn selig, ein selbst in der DDR geborener, mit den Eltern aber "hinübergewechselter" Motoringenieur mit viel Überblick und Sachverstand. Der auf seine schnoddrige Berliner Art seufzend stets gemeint hatte: "Die kriejen eenfach keen' Viertakter uff die Reije, nich ums Verrecken, ick kapier's nich."

Nach 1945 waren aus zwei Gründen viele Konstruktionspläne eben einfach "verschwunden". Entweder wegen des bekannten Patentraubzugs der Amerikaner, die in einem wahren Blitzunternehmen mit LKWs noch im Frühsommer 1945 quer durch die Lande (auch im Osten) gerast waren, und hunderttausende Patente und Pläne (und Dokumente, wie schon 1919 übrigens) einkassiert und schiffsladungsweise (sic!) in die USA verschippert hatten. Wo man noch heute riesige Archive führt, die freilich nur Wenigen aufgeschlossen werden.

Aber auch ob des einfachen Umstands, daß die Eigentümer der Industriebetriebe, um absehbaren Enteignungen zu entkommen, nicht nur mit viel Kapital, sondern auch mit sämtlichen Produktplänen in die Westzonen abgedampft waren, um dort oft ganz neu anzufangen. Wenn auch nicht "ganz von vorne".

Die Russen kamen erst spät drauf, was da lief und kamen überall zu spät. Selbst beim beliebten "Export von deutschen Ingenieuren nach Moskau" blieb ihnen nur die zweite Reihe. Nicht nur also, weil Miami oder San Franzisco schon dem Ruf nach einen höheren Spaßfaktor haben als Tscheljabinsker Plattenbauten oder selbst Sotschis Freizeitkombinate, schoß der (buchstäblich) raketenartige Aufstieg der USA zur Technologieweltmacht Nr. 1 im Grunde auf deutschem Mist. Die deutsche Technik und Wissenschaft war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fast allen Bereichen der der übrigen Welt um zehn, fünfzehn ja dreißig Jahre vorausgeeilt.

So aber wurden überall in der "Ostzone" entkernte Betriebe hinterlassen, von denen oft kaum mehr als die Hardware, also die anfaßbaren Gebäude, Maschinen und Arbeiter übrigblieben, die vieles nun neu erfinden mußten. Zeiss-Optik, deren Geschichte der VdZ etwas näher kennt, ist einer solcher typischen Fälle, drum erwähnt er sie. Der DDR fehlte fortan das, was jede Gesellschaft unbedingt braucht, um sich zu entwickeln: Ein solider, integerer Mittelstand. Diese Geschichte hat sich, übrigens, in allen jenen Ländern wiederholt, aus denen man nach 1945 die Deutschen expedierte. Darin, und nur darin gründet der immer katastrophalere Zustand der dortigen Volkswirtschaften. Es fehlten die Träger des Schöpferischen. Diesen Faktor kennt eben keine der "wissenschaftlichen Analysen" von Gesellschaften mit marxistischer Brille.

Morgen Teil 2) Vorsicht mit Lorbeerkränzen