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Samstag, 4. Januar 2020

Letzte Worte eines weisen Mannes (1)

  • Wenn auch die Kenntnis der Literatur* für ein Land unerläßlich ist, so ist gleichermaßen gewiß, daß sie nicht unterschiedslos an jeden weitergegeben werden sollte. Ein Leib, der überall Augen hat, würde zu einem Ungetüm verkommen, das noch dazu rasch Mode würde. Was geschähe aber mit einem Staat, wenn allen seinen Subjekten die Kenntnis der Literatur vermittelt würde. Man würde in ihm bald wenig Gehorsam, dafür aber viel Stolz und Unverschämtheit finden. 
  • Der Handel mit Literatur würde bald den von Gütern, aus denen allein der Wohlstand eines Staates hervorgeht, übertreffen. Er würde damit zuerst die Landwirtschaft, diese verläßliche und treue Fruchtbarkeit eines Volkes, ruinieren, und dann binnen absehbarer Zeit die Quelle des Soldatentums austrocknen. Deren lebensspendende Läufe mehr von den Rohheiten der Ignoranz als von den Feinheiten der Erkenntnis gespeist werden.
  • Ohne Zweifel würde sich Frankreich mit Quatschköpfen füllen, die sich mehr der Zerstörung guter Familien und dem Erschüttern der öffentlichen Ordnung widmen, als irgendetwas Sinnvolles für das Land zu leisten.
  • Wenn man das Lernen durch Verbreitung unter allen möglichen Arten von Menschen profanierte, würde man bald sehr viele Menschen erleben, die zwar fähig sind, viele Zweifel zu streuen, aber nicht, solche auch ausräumen zu können. Viele wären dann weit mehr in der Lage, der Wahrheit zu widersprechen, als sie zu verteidigen.
  • Aus diesem Grund ist es für Staatsmänner in einem gut regierten Staat wünschenswert, zwar viele Lehrer zu haben, die Meister der mechanischen Künste (gemeint sind v. a. Handwerker; Anm.) sind, aber weniger solche der Freien Künste.

Aus dem Politischen Testament von Kardinal Richelieu (1585-1642), Kapitel II


Morgen Teil 2)


*Mit Literatur meint Richelieu nicht die schöngeistige Literaturkunst der Dichter und Literaten, wie sie heute verstanden wird, sondern die schulische und akademische Bildung generell, die sich auf Medien, Büchern etc. aufbaut. Dasselbe gilt für "Freie Künste", die nichts mit "Kunst" in einem eingeschränkten Sinn zu tun haben, wie es heute verwendet wird, sondern die geistige Tätigkeit generell, in ihrem Unterschied zu Handwerk und Handarbeit meint.