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Mittwoch, 22. Januar 2020

Manche wollen es ja immer noch nicht glauben

Er ist nicht sehr lang, also durchaus zu lesen, aber ganz erstaunlich offen und vielsagend: Im sogenannten "Schürer-Bericht", einer „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“, eine damals "Geheime Verschlußsache", die dem Staatsrat vorgelegt wurde. Und die im Netz abrufbar ist. Gerhard Schürer, der als Hauptautor der Untersuchung zu dieser Erkenntnis kam, war immerhin jahrzehntelang Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR gewesen, also ein Kenner der Materie. In ihrem Bericht stellten die Autoren nach eingehender Analyse der wirtschaftlichen Situation fest, daß die DDR kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand.

Man sprach offen. Und gesteht implizit das völlige Scheitern der Zentralplanungswirtschaft ein. Weshalb raschest Maßnahmen einzuleiten wären, die einer "freien Wirtschaft" schon recht nahe kommen. Wenn man so will: Die DDR stand aus sich heraus vor einem Mauerfall, und die Staatsführung wußte das.

Nichts hat mehr funktioniert, nirgendwo erfüllte die Realität die Planung. Die allermeisten Zahlen blieben Makulatur. Das einzige, was plangemäß entwickelt war und die Steigerungsraten erfüllte, war die Versorgung mit Geld. Das aber in tote Sparguthaben floß, weil es keine Waren gab. Die Autoren empfahlen deshalb sogar, in weiten Bereichen Marktmechanismen einer freien Preisbildung einzuführen, weil dieses Geld, das der Bevölkerung zur Verfügung stand, nur noch zum Problem und zur Quelle wachsender Unzufriedenheit wurde. Kaufen konnte man sich dafür nämlich nichts, weil es die Produktion (Arbeit=Wert=Äquivalent in Geld), die hinter Geld stehen muß, nicht gab.

Das Lebensniveau insgesamt war somit ohne weitere Auslandskredite nicht mehr finanzierbar. Der Importüberhang war schon jetzt gewaltig, und würde weiter gewaltig steigen, weil auch die Exporte ständig fielen. Zwei Jahre wetterbedingter schlechter Ernteerträge wirkten sich zusätzlich verheerend aus, weil sogar die Lebensmittelreserven draufgingen.

Dabei würde eine Kreditaufnahme über den Internationalen Währungs Fonds bedeuten, daß die damit einhergehenden Forderungen nach Öffnung hin zu einer freien Marktwirtschaft das System hinterfragen würden, "was auf jeden Fall zu verhindern" sei. Aber es würde zweifellos offenbar, daß die Ost-Mark unter erheblichem Abwertungsdruck stand. (In Zusammenhang mit dem Importüberhang würde das sogar inflationären Preisdruck bedeuten, was aber in der Analyse nicht extra erwähnt wurde.) Mit größter Dringlichkeit mußte aber der Export in den NSW (Nicht-sozialistischer-Wirtschaftsraum) erhöht werden. Der Bericht empfiehlt Länder wie Frankreich, Österreich oder Japan. Dafür brauchte man wiederum Investitionen, in Maschinen aus dem Westen ...

Ein Teufelskreis, aus dem sich die DDR nur mit einem radikalen Rundumschlag - wenn überhaupt - befreien konnte. Das Ludwig-Mises-Institut faßt den Bericht zusammen und kommentiert ihn. Es hat recht, wenn es meint, daß dieser Bericht, der nach wie vor kaum bekannt ist, zum Grundstoff in den Schulen gehören müßte.

Schürer et al. weisen auf folgende Punkte hin:
  • Es fehlten materielle und finanzielle Anreize zu Wirtschaften; vor allem die Übernahme von privaten Betrieben durch die Kombinate mußte gestoppt werden, und die Betriebe brauchten Eigenverantwortung.
  • Es gab ein Missverhältnis zwischen „Überbau“ und produktiver Basis; die Verwaltung mußte teils drastisch, ja auf einen Bruchteil reduziert werden. Das Berichts- und Kontrollwesen war ausgewuchert und behindernd, es mußte, so der Bericht, auf Wesentliches eingeschränkt werden.
  • Wichtige Bereiche der Versorgung der Bevölkerung wurden vernachlässigt; viele Produkte gab es nicht, vor allem größere private Wünsche waren unerfüllbar (Autos, TV-Geräte, Stereoanlagen ...) Altbauten waren zu Zehntausenden unbewohnbar, die Infrastruktur hoffnungslos im Rückstand, ganze Städte (namentlich wird zum Beispiel Görlitz erwähnt) verfielen. Selbst der Standard von Sozialeinrichtungen wie Krankenhäusern fiel mehr und mehr.
  • Es gab nur geringe Investitionen, weil einfach kein Geld (Kredit) dafür da war, die notwendigsten Investitionen aber auf Importe aus dem "nicht-sozialistischen Wirtschaftsraum (NSW)" angewiesen waren. Interessant ist, daß sogar hier Realität einbrach, weil der Bericht weiß, daß solche Kredite nur durch Produktions- und Produktivitätssteigerungen rückzahlbar waren. Die man mit Planwirtschaft aber nicht erreichte. Man brauchte also dringend Devisen, die man wenigstens zum Teil durch "Nützung brachliegender Kapazitäten im Tourismusbereich" hereinholen wollte, sprich: Durch Anwerben westlicher Gäste.
  • Investiert wurde in den falschen Bereichen; die Wirtschaft blieb ineffektiv und die Produktivität fiel und fiel, weil auch die Produktionseinrichtungen immer mehr überaltert waren. Der Bericht beziffert den Anteil von Anlagen, die quer über die Branchen sogar überhaupt nicht mehr verwendbar (weil "ausgenutzt") waren, auf rund 50 Prozent. Unbedingt mußte deshalb den Betrieben volle Handlungsfreiheit gegeben werden, denn nur sie wissen, was notwendig ist, und nur sie können es auch kalkulieren und erwirtschaften.
  • Die eigene Planung wurde „in bedeutendem Umfang nicht erfüllt“. Als eine der Maßnahmen rät der Bericht dringend, daß zumindest Berichte über Zustände und Leistungen der Wirtschaft "wahr" zu sein hätten.
  • Die Situation ist so prekär, daß ALLE Vorschläge gleichzeitig umgesetzt werden müssen, sonst ist die unmittelbare Zahlungsunfähigkeit der DDR nicht zu vermeiden.
Interessant ist auch, daß der Schürer-Bericht davon spricht, daß die Grenzen fallen müssen, auch wenn man über die Konsequenzen noch genauer nachdenken sollte. Immerhin war es zu Zeiten offenerer Grenzen durch Abwanderung zu einem volkswirtschaftlichen Schaden von rund 100 Milliarden Mark gekommen. Anders als durch solche Öffnung wäre dem Westen (vor allem der BRD) aber nicht glaubhaft zu machen, daß die Veränderungen ernst gemeint wären. Um diese neue Öffnung vor der Welt zu dokumentieren, empfahlen die Autoren für 1995 sogar eine Bewerbung von Ost- UND Westberlin gemeinsam für die Olympischen Sommerspiele 2004.

Die Zeit gerade unter Gorbatschow sei dafür (1989) günstig. Eine Wiedervereinigung schloß man zwar aus, aber man sah insofern eine neue Zeit, als die DDR beweisen wollte, daß es mit der BRD "gute Nachbarschaft" pflegen und so seinen Beitrag zu einem "zu schaffenden europäischen Haus" leisten würde. Man müsse auf friedliche Koexistenz setzen, mit zwar unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, aber durch eine Politik der Vernunft und Entspannung.

Was sagt aber der Bericht uns Heutigen? Viel, denn er gibt weit mehr als Auskunft über das Schicksal jeder sozialistischen Planwirtschaft. Das ist von höchster Brisanz, weil wir heute tatsächlich kurz davor stehen, unsere eigenen Volkswirtschaften auf solch ein Planungssystem umzubauen. "Energiewende" und "Klimarettung" heißt nichts anderes! Und man kann nur mit größter Sorge beobachten, was sich seit vielen Jahren im Energiesektor, derzeit besonders aktuell in der Autobranche abspielt.

Es ist deshalb kein Wunder, daß diese Entwicklungen unter einer Kanzlerin stattfinden, die in einem geschützten Sektor in der DDR sozialisiert wurde. Denn "Geld hatten die ja", sogar (über Auslandskontakte) Westware, und deshalb unhinterfragtes Vertrauen in die Planwirtschaft und die Möglichkeiten einer zentralen Steuerung von Wirtschaft generell. Ihnen erschien Wirtschaft als Mechanismus, der steuerbar ist, und nichts zwang sie in ihrer umzäunten Rundumversorgtheit, die Wirklichkeit der Welt zur Kenntnis zu nehmen.

Genau deshalb hatten sie keine Ahnung über den realen Zustand der DDR. Sie hatten auch keine Ahnung von Arbeit, denn die ist mehr als "tun". Und sie haben deshalb auch heute keine Ahnung über die Folgen, die ein Umbau unserer Gesellschaften zu sozialistischen Systemen haben wird.