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Sonntag, 28. November 2021

Dennoch auf den Weg gemacht

Es ist schwer zu vergleichen mit heute, und nur schwer vorstellbar im Sinne von begreifen, aber die Menschen des hohen und späten Mittelalters (grob das 11. bis 14. Jahrhundert) waren dermaßen "auf der Straße", daß man immer wieder verblüfft ist. Und das vor allem durch Pilgerfahrten. Gestützt von einem berückenden Mysterienglauben und -leben, kamen ständig neue Pilgerziele auf den Speisezettel der frommen Reisenden, der aber von einigen Fixpunkten dominiert war. Der Schrein mit den sterblichen Überresten der Heiligen Drei Könige in Köln, die Heimstätte des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela, und natürlich das Zentrum der Welt - Rom und das Heilige Land, die zusammengedacht werden müssen.

Vor allem bei letzterem muß man die Unsicherheit der Pilgerwege als einen der Hauptgründe für die Kreuzzüge annehmen, und zwar nicht nur durch die muslimischen Araber, sondern durch Europäer, die frisch und frei neben ihnen ihr fragliches Handwerk entwickelten. Das Ausrauben von Reisenden war also nicht nur das traditionelle Gewerbe vieler Araber, ja das eigentliche Handwerk ganzer Landstriche, sondern auch das zahlreicher Franzosen, Engländer oder Deutscher, die auf diese (in manchen Kulturkreisen durchaus angesehene, "legitime") Weise ihren Lebensunterhalt bestritten. Heil den langen Weg von Konstantinopel durch die Levante nach Jerusalem durchzukommen war eine höchst seltene Ausnahme.

Es ist umso verwunderlicher als die Chance, auf der Straße NICHT überfallen, ausgeraubt, gefoltert, als Geisel gehalten oder gleich ermordet (und ausgeplündert) zu werden in manchen Gegenden gleich NULL war. 

Die Kirche reagierte, und stellte das Ausrauben von Pilgern unter schwere Kirchenstrafen, bis hin zur Exkommunikation. Aber es nützte wenig. Ganze Dörfer sahen im Ausrauben von Pilgern ihren Broterwerb. Und niemand blieb verschont, im Gegenteil, hochgestellte Persönlichkeiten, Adelige, Bischöfe waren schon deshalb beliebte Opfer, weil für sie hohe Lösegelder winkten. Wurden die nicht bezahlt, wurden die Geiseln entweder verstümmelt oder gleich ermordet. Und eine Gaststätte, in der man Rast suchen oder übernachten wollte, sollte gut ausgesucht werden, denn nicht wenige hatten den Ruf, daß viel hinein, aber nur noch wenige herauskamen.

Was aber weiter verblüfft ist, daß die Räuber selbst höchst international waren. Ja es gab sogar "Domänen", in denen Wegelagerer bestimmter Länder in bestimmten Ländern ihr Unwesen trieben. Wer etwa den Jakobsweg in Nordspanien benutzte konnte davon ausgehen, einem englischen Räuber zum Opfer zu fallen. Die Wege der Toskana waren gerne von Römern heimgesucht, und Norditaliens Straßen "gehörten" deutschen Räubern. Die Räuberschaft auf Frankreichs Pilgerwegen blieb zwar mehr international, war aber natürlich eine Domäne der Heimmannschaften.

Wenn man aber schon nicht Räubern zum Opfer fiel, drohte die Ernährungssituation zur großen Hürde zu werden. Durch Südfrankreich war es sowieso gleich besser, die Versorgung für die Tage der Durchreise mitzuführen, denn es war nichts zu kriegen, schon gar übrigens Futter für allfällige Transporttiere. Es gab gesuchte schriftliche Reiseführer, die Ratschläge gaben, wie man wo überleben konnte, welche Lebensmittel (etwa die Fische der Flüsse der Levante) man unbedingt meiden sollte, wo das Fleisch mit Garantie verdorben, das Brot selten, oder sogar das Wasser ungenießbar war, sodaß dessen Konsum oft tödliche Krankheiten nach sich zog. 

Aber alle diese Schwierigkeiten konnten die Menschen nicht abhalten, sich auf den Weg zu machen, um einen Nagel vom Kreuz Christi, Haare vom Haupte der Heiligen Crescentia, den Schleier der Gottesmutter Maria oder gleich deren Abbild als vom Heiligen Apostel Lukas gemalte Ikone, das Schweißtuch der Veronika in Manoppello, Blutstropfen des Heiligen Petrus oder eine mit Blut eines anderen Märtyrers gefüllte Phiole zu verehren. 

Um durch Demut und völlige Ergebenheit gnadenhalber in die Sphäre der Heiligen zu gelangen, und so hoffentlich nicht den höllischen Plagen anheimzufallen, die man eigentlich verdient hätte. Der Sinn war ausschlaggebend, das wirklich Wirkliche. Die rein irdische Existenz war es immer: Ein Vallis Lacrimosa, ein Tal der Tränen. Und niemand erwartete, daß sich das ändern könnte. Denn warum sollte es? 

Es hat sich doch nichts geändert. Weshalb es einfach nur grotesk anmutet, daß unsere Zeit meint, doch eine Alternative gefunden zu haben, oder finden zu können. Und unserer irdischen Pilgerzeit ein Leben ohne Leid und Schmerz abzugewinnen. Unser Leben ist doch so kurz, so unglaublich kurz. Man erkennt aber erst im Alter, wie wahr dieser Satz ist, der eigentlich als Leitsatz unserer Kultur angesehen werden kann. Aber sogar das ist uns im Speziellen als Plage auferlegt, weil wir die Überlieferung ablehnen, den Rat der Eltern verweigern und den Vorfahren ihre Autorität absprechen. So müssen wir selbst erfahren, daß es so ist - zu einem Zeitpunkt, wo es doch schon zu spät ist, noch ein "anderes" Leben, ein tatsächlich "besseres" Leben zu führen.  

Ich frage mich deshalb oft, ob unseren Generationen im Alter - und diese Phase unter diesen speziellen Voraussetzungen beginnt für uns bereits Mitte vierzig, wenn wenigstens die Klugen nämlich erkennen, wohin ihr eingeschlagener und durch Gewohnheit, Haltung und wie Schienen wirkende Einrichtung unserer Umstände, noch mehr bleibt als das Leben strenger Buße und Sühne. Richtig wäre es. 

Wären wir klug, wären unsere Landstraßen voll mit Pilgern, die sich die Rücken blutig geißeln, barfuß in Schnee und Kälte von Kloster zu Kloster gehen - die bei uns, übrigens, in strammen Tagesabständen stehen, und zwar netzartig, in alle Richtungen, als wären sie genau auf den Takt der Pilger abgestimmt - um schließlich auf Knien die letzten Kilometer zu den Orten der Wunder und des durch spezielle Gnadenmittel geöffneten Himmels zurücklegen. 

Wären wir klug, würden wir begreifen, daß uns nur noch Sühne und Buße davor bewahrt, daß der Wahnsinn, den wir selbst in unserer Lebensspanne mit angerichtet haben und durch den wir mit schuldig wurden, der aber als Kulturlast* zentnerschwer auf jedem von uns liegt, uns durch unsere Prägungen daran hindert, dem Sinn zu folgen, unser Pilgerziel zu erreichen, und so in der Hoffnung leben und schließlich sterben zu können, erlöst zu werden. Weil es einen Erlöser gab, der Gott und Mensch zugleich war und auf diese Erde kam, um dadurch das Menschsein in das Leben der Dreifaltigkeit hineinzunehmen. So wir das denn auch wollen.

Und das ist unser Problem. Dieses Wollen vom Kopf in den Arsch zu kriegen, sozusagen. Denn erst dort ist es ein wirkliches Wollen. Und das zu erreichen, dazu dient die entbehrungsreiche Pilgerreise, der Mensch des Mittelalters wußte das. Indem wir uns aus allem herausreißen, und uns je nachdem über eine gewisse Frist einer völlig jeder Ordnung beraubten Umwelt, dem Chaos der Straße ausliefern. 

Sodaß uns nichts an unseren alten Fehlhaltungen festhält, alles fraglich, volatil wird, und sich am Ziel unserer Pilgerfahrt gewissermaßen zu einer reformierten Welt-Persönlichkeit an der Hand der liturgischen (also göttlichen) Gestalt wieder zusammensetzt. Damit wir als reformierter Zusammengesetzter dann wieder zurückgehen können. An unseren Herd, unsere Arbeitsstätte und unsere Umgebung hergebrachter Beziehungen zu Mensch und Welt.

Gibt es einen schöneren Ausdruck unserer hier einmal mehr so ganzheitlichen (Ex-)Kultur für dieses "Auf dem Weg sein" als diese wenigstens rudimentär noch vorhandene Adventzeit? Die als Fastenzeit (die es ist**) somit als große Pilgerzeit erkennbar wird, an deren Ende die größtmögliche Reform unseres Lebens möglich wird - im Fest der Geburt Christi, dessen irdische Gestalt somit die große Versöhnung von Himmel und Erde ist. Damit wenigstens für ein paar Tage die Straße hinter uns gelassen, und die Welt, ausgehend von der Gnade der sakramentalen Geburt des Herrn Jesus Christus, zu einem Angeld, zu einem Vorgeschmack der Ewigkeit werden kann, zu der wir berufen weil dazu geschaffen wären.

Nachbemerkung: Man sollte diesen Beitrag in einem direkten Zusammenhang mit dem gestrigen sehen. Sodaß man die Idee des Auswanderns um den wichtigen Aspekt ergänzt sehen lernt, daß ein Verlassen der angestammten Heimat aus egal welchen Gründen nur dann legitim ist, wenn man sie als Pilgerreise auffaßt: Nicht angetreten, um ein Paradies zu finden, sondern als Weg der Sühne. An dessen Ende eine Reform der eigentlichen Lebensaufgabe steht, die uns in die Wiege gelegt wurde - von Gott, der in uns einen besonderen Gedanken darstellen wollte und uns deshalb ins Dasein rief, wie von den Menschen - den Vorfahren wie der aktuellen Umgebung.

*Ich weiß, unsere Zeit hört es nicht gern, und kann damit rein gar nichts mehr anfangen. Das ändert aber nichts an der Wirklichkeit dessen, daß ein fundamentaler Teil unserer Persönlichkeit als "Kollektivseele" angesehen werden muß. NICHT, wie ein nicht nur mißverstandener, sondern ein irrender C. G. Jung im Notgriff zum Irrationalen meinte, als wäre es eine Art "reales Geisteswesen", ein "Dämon" oder "Engel".

Wenn auch eine Neurose auch diese Form haben oder einen Dämon anziehen kann, um dann tatsächlich so etwas wie ein eigenständiges, reales "Wesen" zu werden. 

Aber diese unsere "Kollektivseele" ist nur eine Metapher für ein allen Gemeinsames. Als ein je individueller, von den Lebensumständen und -wegen geformter Teil unserer Seele. Geformt von zweitwirklichen, also über dem wirklich Wirklichen übergebautem Psychoiden, in Lebensweisen immanenten und deshalb den Menschen übertragenen Haltungen, in Ansichten und Anschauungen ("Meinungen"), die irrig, schwer irrig sind, und unsere gesamte Anschauungsweise so prägen, daß wir kaum noch aus ihnen ausbrechen können. 

Um bereit sein, das wirklich Wirkliche zu sehen und die lebendige Wahrheit zu erkennen. Der wir dann - wenigstens so weit in der Katharsis unseres Scheiterns geläutert - endlich überhaupt einmal begegnen können. Um beginnen zu können, am Du endlich zum Ich zu werden. Denn soviel ist sicher: Nur "Iche" werden ins Himmelreich eingehen können.

**Wie das Pilgern, ist das Fasten ein in Freiheit (man könnte auch anders) auf sich genommener Verzicht auf einen möglichen Lebensvollzug bzw. -genuß, und damit Auflösung der Ausstattungsfülle des Ortes, an dem man steht. ("frui", Freuung an den Gütern der Schöpfung, Ausfluß der im "consumare = mit/in einem, nun in eins fließenden Sein sein") Teilhabe am Sein selbst.) 


*171121*