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Mittwoch, 3. November 2021

Er hatte nichts anderes (2)

Die Parallelen sind verblüffend. - Damit klaffte ein großer Graben zwischen Hitlers eigenen Vorstellungen, wie die Welt ihm gegenüber sich verhalten müßte - anerkennend, lobpreisend etc. - und dem, wie sie auf ihn tatsächlich reagierte. Auch wenn wie nachträglich nur mit Vorbehalt urteilen können.

Was mir spätestens seit der Ausstellung über Albrecht Dürers Lebenswerk bewußt ist, die ich vor Jahren in Wien besucht hatte. Denn die ersten Bilder und Zeichnungen von Dürer sind auch keine Kunstwerke, sondern tot, wie die von Hitler. Auch Dürers erste Zeichnungen sind naiv und ungelenk. Aber man sieht, wie sich mit der Befassung damit der Meister entwickelte. Und ab irgendeinem Punkt wurden alle Bilder, die uns überliefert sind, Kunstwerke. In denen das Dargestellte zu dem wird, was es darstellt. 

Hitler kam nicht so weit. Der Krieg unterbrach sein Malen (von Postkarten), und ein neues Lebensgebiet tat sich auf. Eines, in dem ihm der Zusammenhang von Leben und Politik. Durch die Vorgänge in der neu entstandenen Republik neuer Art. Denn nun mußten alle sich an etwas herantasten, das ihnen neu war, und von dem nicht einmal klar war, was eigentlich das Ziel sein sollte.

Somit stand ganz Deutschland in dem Dilemma, sich tagtäglich an etwas zu orientieren zu haben, das selbst erst in diesem Herantasten definiert wurde. Wo nur jene besser dran waren, die wenigstens jene klassische Bildung hatten, die vergangene Bilder vorstellte. Hitler hatte diese Bildung nicht, und ihm fehlten auch die Universitätsjahre, in denen er solche Bilder in Ruhe entwickeln konnte. So stand er wie jeder nebenberufliche Autodidakt im Widerspruch täglichen Bewährenmüssens und "nachholen". Sehr bald erwarb er dadurch die Fähigkeit zu blenden, eine Identität vorzutäuschen die fertiger wirkte als sie war. Personen, die ihn nicht so gut kannten, hielten ihn deshalb tatsächlich für gebildet.* Hitler konnte eben gut "simulieren", weil er stets simulieren mußte.

Also befaßte er sich notwendigerweise mit psychologischen Mechanismen die darauf abzielen, WIE man sich normalerweise und unter der Voraussetzung von Talent - wobei er eben seines noch nicht kannte - in der gesellschaftlichen Hierarchie bewegt. Und wie man darin nach oben kommt. 

Im Grunde bestätigt Hitler damit die Erkenntnis, daß es nicht die Leistung ist, die nach oben bringt, sondern das Sein, der Ort, in den man hineingeboren wird, die Identität, die einem vorausgeht. Und sei es als Ruf. 

Auch in diesem Punkt ist Hitler kein Sonderfall, sondern seine Entwicklungsgeschichte ist in der Gesamtkonstellation der historischen Ereignisse und ihren sozialen und psychologischen Auswirkungen in gewisser Weise vorgezeichnet. Jeder Mensch ist eben immer auch typisch, für die Zeit, die groben Linien der Umstände, der geschichtlichen Situation des Volkes, in dem er lebt, ja der Welt.

Ich habe schon öfter hier davon gesprochen, und die Geschichte um Sebastian Kurz hat es einmal mehr bewiesen. Daß nämlich die Parteien-Demokratie, wie wir sie erleben, mehr und mehr keine inhaltlichen Größen mehr nach oben bringt, sondern Personen begünstigt (um es gelinde auszudrücken), die sich lediglich mit den Mechanismen befassen, wie man nach oben kommt, völlig unabhängig von Inhalten. Die also nicht zuerst eine Sendung, eine Botschaft haben, sondern die sich eine Botschaft wie ein notwendiges Accessoire "zulegen". 

Hitler hat es nicht anders gemacht. Wären die Dinge anders gelaufen, etwa zur Zeit, als er gewählter Vertrauensmann bei den (kommunistischen!) Soldatenräten war, wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre. Hier aber etwa "Ein zweiter Stalin?" zu denken ist grundfalsch, denn man kann sehr sicher sogar sagen, daß die Spiegelung der Ebene, die er hier erreichte, genau die ist, die mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit falsch ist.

Hitlers Werdegang in München zeigt aber auch keinen durch und durch einem Gedanken folgenden Philosophen oder Denker. Auch dieses Attribut wird ihm ja gerne zugewiesen. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß er sich eine möglichst "runde" Anschauung bastelte, die zu seiner Gestimmtheit paßte. Denn zuerst war da dieses "nach oben wollen", ja es war das einzige. 

Die wirklichen politisch-inhaltlichen Anliegen (etwa der soziale Bereich, oder die Wirtschaftsagenden unter den Bedingungen von Versailles) lagen ohnehin so deutlich auf der Straße, daß das politische Programm der NSDAP nach der Machtergreifung 1933 kein politischer Bruch war. Sondern eine lediglich rücksichtsloser als sonst umgesetzte Politik der Vorgängerregierungen war, die in ganz Europa, insbesonders aber sogar in den USA als "modern" angesehen wurde. Und das war eine Politik der schuldenbasierten Prosperität. 

In der keine Wirklichkeit zurückschlug, weil neue Schulden alle Fehler glattbügelten, sehr leicht Klientelpolitik möglich machten, und Wirtschaft als Mechanismus auffaßten, die lediglich der Geldpolitik zu dienen hatte. Also konnte auch keine Krisensituation verkehrt sein, die das Tor zu Schulden weit aufstößt - und sei es, daß man die Krisen selbst schafft. Aber keine Idee des Nationalsozialismus war NEU. Hitler hat alle Ideen von der Straße aufgelesen, anderen Parteien gestohlen, und zu einem "Neuen" zusammengestellt.

Die Geschichte um seine Photographien bestätigen diese These, denn Hitler schien eine große Furcht davor zu haben, auf eine Weise "erkannt" zu werden, die nicht von ihm bestimmt und kontrolliert war. Dieses Verhalten ist außerdem für einen Narzißten typisch, während eine gesunde Psyche gerade dadurch entsteht, daß sie gerade Fremdurteile nach und nach mit genuinen Antrieben harmonisiert und begrifflich abstimmt.

Was Hitler aber erlebt war eine Welt, die dringend nach neuer Führung suchte, denn die Köpfe waren abgeschlagen worden. In so einer Welt ist es gefährlich logisch, daß viele diese Nachfrage" erkennen und sie als Chance wahrnehmen wollen. Hitler war einer von diesen. Hitler fiel nachgerade in dieses Vakuum im Volk, und weil er aus demselben Holz geschnitzt war wie die Menschen, konnte er exakt deren Vorstellungsbilder, wie solch eine Führung auszusehen habe, erfüllen. 

Dadurch hat er die Deutschen auf seine Seite gezogen und von sich überzeugt. Das wird auch durch die Tatsache gestützt, daß er sehr bald an den Aufbau einer Schutztruppe ging, die jeden Widerstand bei Versammlungen etc. verhindern oder brechen sollte.

Aber das bringt uns zum zweiten Punkt, der nachdenklich macht, weil Parallelen auffallen. Denn alle diese "normalen Dinge", alles dieses "normale Leben" ist auch heute - hier bei uns - und sogar schon lange dabei zu verdunsten. 

Diese Lebensdinge sind in dem Maß verschwunden, als die Verbindlichkeit zwischen den Menschen (also die sogenannten "Sozialstrukturen") verschwunden ist. Denn die ist es, die solche Netze spannt, sich jeweils auf Inhalt ausrichten und Inhalte gewissermaßen anzieht. Die Persönlichkeitsdürre Hitlers, diese Armut an Lebensinhalten, die nur "außergewöhnliche Lebenswege" aufnehmen kann bzw. könnte, ist somit eine sehr allgemeine Erscheinung geworden. Was für Charakteren - in allen Bereichen unseres Lebens - sind wir also zunehmend ausgeliefert, weil sie schon aus demographischen Gründen das Ruder übernehmen? Was steht uns da noch bevor?

Mit welchen konkreten Lebensinhalten werden die Leben noch gefüllt, daß sie die Bedürftigkeit jedes Menschen nach Fülle und Sättigung nicht unerledigterweise abbrechen müssen, weil nichts (mehr) da ist? Um sich mit jenen Inhalten zu identifizieren, die Philosophien oder Weltanschauungen ausmachen, die dann zur persönlichen Struktur werden. Die Frage ist, woraus der identitäre Stoff gemacht ist, aus dem eines Leben gemacht ist. 

Fehlt die Konkretion, das also, was sonst das Leben ausmacht und (man könnte sagen) von Anbeginn an die Menschheit ausgemacht hat - Haus, Garten, Familie, Enkel, Pfeifenköpfe und Stierhörner und Sulzrezepte - bleiben nur Ideen. Werden Identitäten aber nur noch aus Ideen gemacht, wird jedes bessere Argument des anderen zur existentiellen Bedrohung. 

Mehr noch, steigert sich die Rolle der Medien, diese Löschblätter der Ideen, zur Welt selbst. Diese Ereignisse in der Welt sind aber dann zunehmend das Objekt der Begierde, weil mit ihnen auch die Erkenntnis wächst, daß Berichte manipulierbar sind, und damit Welt und Mitmensch gesteuert werden kann. Das Leben, die Welt, das "Absolute" wird zu Ergebnissen von (eigenen bzw. "erkannten") Strukturen und Bildern von dahinterstehenden Menschen. Eigentliche Ergebnisse "des Lebens" sind kaum noch identifizierbar.

Damit aber auch das Wort der Götter selbst, denn sie sind - ob man das anerkennen will oder nicht - die Urheber von Resultaten, weil die Welt als Ganze eine Fülle unbeherrschbarer und unvorhersehbarer komplexer Systeme ist, in die wir alle eingebunden sind, immer, oder auch göttliche Zugewiesenheiten. Das heißt: Gott wird beherrschbar.

Spätestens ab diesem Punkt hat eine Wirklichkeit keine Chance mehr, erkannt zu werden und Bezugspunkt zu sein. Weil das "Normale" aufhört, Gewicht zu haben. Das Strukturelle der Welt wird dann aber zur - einzigen - persönlichen Angelegenheit, um die es geht, will man sich im Leben behaupten. 

Vor allem weil sich so die Illusion gebiert, daß es ein Agieren gäbe, ein menschliches Handeln, das sich direkt auf wirkliche Strukturen beziehen könnte, sondern daß es nur um die Herrschaft über die Strukturen gehe. Weil die es dann wären, die unsere Leben gestalteten, also auch schlechter oder besser machten. Und besser wollen es ja alle, nicht wahr?

Auch Hitler versprach, alles besser zu machen, und viele glaubten ihm. Sind wir auf diesem Weg nicht auch heute schon sehr weit vorangeschritten? Wissen Sie, werter Leser, abschließend gesagt, wissen Sie, was in diesen frühen 1920er Jahren die Menschen häufig bewegte? Alle waren überzeugt, daß die Zeit reif für einen Führer war. Alle wollten einen Führer. Die wichtigste Frage war damit lediglich die Frage, WO er sich denn noch versteckt hielte. Denn aus dieser vertrauten Umwelt würde er eines Tages hervortreten, und die Welt erlösen.

Es wird jemand sein, das kann man schon jetzt sagen, der kein Leben hat. Der nichts anderes hat als ... Ideologien und Weltanschauungen. Der nichts anderes kann als die Strukturen bewegen, um nach oben, um an die Macht zu kommen. Wenn in diesen Wochen ein Sebastian Kurz gescheitert ist, so ist uns das vielleicht als Warnung zu werten. Denn mit all diesen Enthüllungen wurde auch klar, daß wir es hier mit Führungskräften zu tun haben, die kein Leben mehr haben, und die nichts anderes mehr können als jene Mechanismen zu bedienen, die nach oben und an die Macht hieven. 

Ich hatte bislang nicht gedacht, als ich eine nächste Biographie über Hitler - diesmal die von Peter Longerich - begonnen hatte, daß dieses Politikerleben dermaßen aktuell ist, daß man fast davon ausgehen müßte, daß sich auch die Umstände und Zeiten decken. Die Frage kann also nur die nach jenem Wirklichen sein, das immer in zeitbezogenen Kostümen in die Sichtbarkeit tritt. Aber in einer scheinbar völlig anderen Kostümierung (und damit Deutung der Begriffe) ist keine Unterschiedlichkeit des Wirklichen zu begründen. Ebenso wenig wie im Festhalten an konkreten Kostümierungen dessen Kontinuität belegt wäre.


*Freilich, wirklich Gebildete durchschauten das rasch. Das kann man nicht nur Schilderungen verschiedenster Personen entnehmen (wie eines Prof. Sauerbruch, oder ich denke an die Schilderungen von Carl Jakob Burckhard, der ihn als Völkerrechtskommissar für Danzig einige Male recht intensiv kennenlernen konnte). Ich kannte seinerzeit, also vor dreißig Jahren, einen damals schon recht betagten, sehr gebildeten Pädagogen, der 1938 (er war damals schon promoviert) aus persönlichem Interesse auf den Heldenplatz nach Wien gefahren war, wie er mir erzählte, um sich diesen Mann einmal anzuschauen. Und er war auch so zu stehen gekommen, daß er ihn recht gut sehen konnte. Er war entsetzt, und ich glaubte ihm. "Das ist ja ein Verrückter," und mit diesem Urteil war er wieder heimgefahren. Entsprechend waren seine Erwartungen gewesen, was auf Österreich und Deutschland zukommen würde, die sich dann auch erfüllt hatten. 


*271021*