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Dienstag, 2. November 2021

Er hatte nichts anderes (1)

Adolf Hitler war nicht so, wie man sich gemeiniglich einen guten Redner vorstellt, schreibt Peter Longerich in seinem 2015 erschienen "Hitler". In der er sich, wie er gleich im Vorwort schreibt, darum bemühte, einen Verdacht zu beweisen, der sich im Laufe seiner Forschungen zur Gewißheit erhärtete. Daß nämlich dieser Mann nicht einfach nur durchschnittlich, sondern sogar ein ziemlich unterdurchschnittlicher, platter, banausischer Mensch war. Das zu erkennen läßt aber mehr als bislang berücksichtigt erkennen, daß das Handeln eines Menschen in einem ungeheuren Ausmaß in seine Zeit eingebunden, mit ihr in Dialog ist, und daß sich Phänomene nur in ihrem Insgesamt verstehen lassen, niemals aus dem Einzelding selbst heraus. Die Zeit hat sich also ihren Hitler gebildet, könnte man sagen, und erst in zweiter Linie Hitler die Zeit, in der er gelebt hat. 

Und so muß man auch manche Zuschreibungen neu durchdenken. Etwa die, daß Hitler ein "so hervorragender Redner" gewesen ist. Wäre er das nämlich noch heute? Wie würden wir heute auf ihn reagieren? Es gibt viele Augenzeugen seiner Reden, die übereinstimmend berichten, daß er sich bei diesen Reden, mit denen er seine Karriere und die der NSDAP aufbaute, wie ein Irrer aufführte. Er geriet in diesen Reden, die in der Regel drei, vier Stunden dauerten, völlig außer sich, und monologisierte schier ohne Ende. Seine Mimik, seine Gestik wurde nach jeweils einer kurzen Anlaufzeit dermaßen exzentrisch, daß manche entsetzt waren. Das Haar hing ihm während dieser Stunden wirr ins Gesicht, sodaß er manchen auch dämonisch wirkte. Hatte er geendigt, war seine Kleidung klitschnaß, er selbst völlig aufgelöst und erschöpft. So sank er auf ein Häuflein zusammen, als ein völlig anderer Mensch als noch Minuten zuvor. 

Analysiert man die Inhalte seiner Reden, so bleibt nicht viel. Man vermißt jede inhaltliche Tiefe, trotz der Länge, es gibt kaum Begründungszusammenhänge und argumentative Stringenz, sodaß kaum ehr als ständig wiederholte Emotionsausbrüche, Tiraden und Schlagworte bleiben. 

Dennoch hörten die meisten fasziniert zu. Sie nahmen Hitler ab, daß er das, was er da sagte, vollkommen ehrlich meinte. Und das alleine - Ehrlichkeit! - war das Pfund, mit dem in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Obrigkeit so zerrüttet war wie 1919, zu wuchern war. Gerade das war es, was man an diesem Österreicher, der jahrelang sogar fürchten mußte, als "Ausländer" ausgewiesen zu werden, so schätzte. Endlich sagte einer, was alle dachten, endlich war da einer, der die Dinge beim Namen nannte, die man auch selbst erlebt hatte, und genauso erlebt hatte. Der Mann war also "einer von uns". Und darin war Hitler als Politiker eine neue Kategorie, die die Massen, die einfachen Menschen ansprach.

Das alleine wäre nicht unbedingt neu, und man kann mitnehmen, daß es wie ein Zyklus ist, in dem alle paar Jahre oder Jahrzehnte Politiker mit genau diesem Ruf und Anspruch auftreten. Aber Longerich zeigt manches, das mich von neuen Seiten her über die Sache, die ich eigentlich für "durchgekaut und abgehakt" hielt, nachdenken macht. Und die an der Gegenwart neue Facetten aufblitzen läßt. Denn natürlich muß man eine Geschichte, die in ganzen Bibliotheken bereits beschrieben und beleuchtet worden ist, nicht neu erfinden. Aber es ist auch das Wesensbestandteil der Geschichtsschreibung, die Vergangenheit in Aspekten aufzuhellen, die aus der Zeit stammen, in der die Untersuchung geschieht, nicht in der die unersuchten Dinge selbst geschehen sind.

War Hitler, wie es oft heißt, in München (oder, wie manche sagen, in Wien) von diesem oder jenem Einfluß geprägt zum Politiker geworden? Longerich verneint dies eher, wenn er schreibt, daß sich Hitler mit den politischen Vorgängen auf großer, Bundes- oder gar Weltebene deshalb so befaßte und deshalb so damit verwoben schien, weil er sonst ja gar kein Leben und keine Welt hatte. Hitler hatte schon in Wien, noch mehr aber in München weder Verwandte noch sonstwede nicht-politische, private Kontakte. Schon als er da in der Hauptstadt Bayerns anlandete lag ein Leben hinter ihm, in dem er nur diese äußeren, großen Bezirke hatte, während das, was er tat, nur vorläufig und nicht ernst war. 

Auch, weil es eine Geschichte des Versagens gewesen ist. Hitler hat auch später und sein ganzes Leben lang enorm viel Energie aufgewendet, seine Vergangenheit, seinen Werdegang zu beschönigen, und als Geschichte der Genese eines Genies darzustellen. Erst sein Leben als Soldat im Weltkrieg 1914-18 war für ihn so etwas wie ein Leben, und Hitler wollte so lange es ging nicht wieder in ein Zivilleben zurückkehren. Als er es dann doch tun mußte, stand er bereits mitten in einem brodelnden Kessel revolutionärer Umgänge, die München und Deutschland erschütterten.

Er identifizierte sich aber sofort mit diesen Geschehnissen und einer Welt aus Ideologien, weil es keine andere Welt für ihn gab. Nicht aus Entschluß und Wahl, sondern als Tatsache seines Lebens. 

Und deshalb waren sie ganz real das Fluidum, aus dem Hitler selbst gewoben war. Alle anderen heirateten und bekamen Kinder, hatten ihre Begräbnisse und Taufen und privaten Feiern, ihre Liebsten und ihre Streitereien und ihre Versöhnungen, ihre Abende beim Bier und bei der Faschingsfeier. Alle anderen wollten ein Haus bauen oder einmal mit fünf Pferden leben, und das Alter inmitten einer großen Familie erleben oder die Füße im Meer baden. Alle anderen überlegten, was sie mit dem Obst machen sollten, das da zu ernten war, und waren als Hirsebrandkenner landab bekannt. 

Nichts davon gab es bei Hitler. Der hatte nur seine Ideologien. Und seine Machtträume und Besonderheitswünsche.

Das macht in mehrerlei Hinsicht nachdenken. Zum einen, weil uns da sofort einfallen könnte, daß Jugendumfragen heute regelmäßig und mit ständig weiter zunehmender Stärke ergeben, daß zwei Drittel der Jungen heute von Berühmtheit träumen, ohne dies in irgendwelchen konkreten Tätigkeiten fundieren zu können. 

Halten wir uns dazu einmal vor Augen, daß jeder Mensch unter so speziellen Bedingungen aufwächst, daß diese sich nur höchst grob verallgemeinern ließen. Immer aber ist es eben der Ort, in den jemand hineingeboren wird, der dann auf einmalige Art die Weise prägt, wie sich eine spezielle Veranlagung (die aber verallgemeinerbar, gewissermaßen gesichtslos, tätigkeits-, berufslos ist) ausdrückt.

Hitler, der in im Grunde zerbrochenen Familienverhältnissen aufgewachsen war, und schließlich nur noch seine Mutter hatte, war aber nie in ein feststehendes Gefüge eingepaßt. Sondern immer einerseits herausgerissen, anderseits zunehmend so charakterisiert, daß er über die Mutterbindung (die Mutter war die einzige Konstante) den Mangel an Identität - und er hätte eine bestehende, feste annehmen können, ja wollen, wie eben die des Vaters, der durchaus anerkannt war; in der des Soldaten hatte er es ja versucht, aber da endete eben der Krieg ... - die Vorstellung fixierte, etwas Besonderes zu sein. 

Um damit auch Liebe zu verdienen ist dieser Identitätslosigkeit, die also immer aus dem fehlenden Vaterbild entsteht, zu eigen, daß sich ihr Träger selbst fremd bleibt. Und damit "besonders". Weil er sich nicht in der Umwelt definiert! Vom Talent her hätte freilich nichts für Herausragung gesprochen, denn Hitler war zwar nicht untalentiert, aber kein großes oder gar künstlerisches Talent. Als man ihn das erste Mal in der Kunstakademie in Wien ablehnte war einer der Kommentare, daß seine Zeichnungen "keine Menschen" enthielten. Nur ... Gebäude. Wie ein Bauzeichner? Ja, wie ein Bauzeichner.

Morgen Teil 2) Die Parallelen sind verblüffend


*271021*