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Donnerstag, 18. November 2021

Die Vorstellungen von Vikingern (1)

Die Vorstellung, die Vikinger seien eine "rassisch homogene" Volksmasse gewesen, mit hohen, nordischen, blonden Recken und ebenfalls blonden gradwüchsigen Weiblein, sämtlich nicht unter 1,84 Meter zu kriegen und in der Hochzeitsnacht erst nach hartem Ringkampf zu bespringen, ist allen archäologischen Zeugnissen sowie genetischen Untersuchungen nach nicht haltbar. So wurde es der Welt in gewissen Phasen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zwar eingeredet, und nicht nur am Rhein oder der Spree, sondern auch an der Themse, der Seine und am Po, aber es ist Unsinn.

Man unterschätzt die Migrationsbereitschaft der Menschen schon zu vergangenen Zeiten. Ja von Anfang an ist der Mensch IN DIE WELT GEGANGEN. Fort, aber auf die Verwurzelung zu. Es ist dabei eine Tatsache, daß der verwurzelte Mensch eine gewisse Ausnahme blieb. Wenngleich auch Zielpunkt des Menschseins. Aber immer war er schwer errungen, und lange und für viele unerreichbarer Traum für jene, die schon durch die Zahl der Kinder in den eigenen Familien durch den Rost (der Erbschaften und Übernahmen aus bestehendem Besitz) fiel. 

Und nun gezwungen war, sich aus dem Würfel sein Ei zu schlagen. Viele sind ausgewandert, aber viele sind auch nach Skandinavien eingewandert. Kurz gesagt: Man unterschätzt bei Betrachtungen der Vergangenheit generell den Faktor Migration. Aber man verkennt sie auch, als Symptom einer letzten Phase. Und zu dieser muß man die Ausgrabungen am Trent in England auch rechnen, bei denen Cat Jarman in dem überaus lesenswerten Buch "River Kings" in ihrem Versuch einer Neudeutung der Vikinger ansetzt. 

Was sie durch ihre detektivische /spannende) Kombinationsgabe an spannenden Fakten zutage fördert, läßt aber sogar noch mehr erkennen, als die Engländerin selber meint. 

Es gibt noch mehr Fakten im Fall der Vikinger, die gewiß manchen verwunden, weil sie ein anderes Bild zeichnen. Das dem Bild in unseren Köpfen vielfach widerspricht, auch in der Rolle, die Migration in ihrer Geschichte gespielt hat. Was an Humber und Trent sichtbar wird, läßt sogar Rückschlüsse auf eine gesamte Epoche zu, in der für 200, 300 Jahre die Vikinger einen guten Teil der Erde dominiert haben.

Wir haben dabei die Vorstellung festgebrannt, daß die Vikinger (Skandinavier), die Norweger, Schweden, Dänen nur ausgewandert sind. Untersucht man aber die Relikte in archäologischen Fundstätten kommt man aus ihrer späten Phase zu einem Lebensbild, in dem die Hälfte der Menschen, die im Norden Europas gelebt haben, südlicher, südöstlicher bis orientalischer, aber natürlich auch slavischer wie generell östlicher Herkunft waren. Genauso wie westlicher: Auch die Iren und Waliser waren nicht am Boden festgenagelt. 

DNA-Untersuchungen belegen im übrigen die Verwandtschaft der Angeln und Sachsen in England mit dem gesamten skandinavischen "Germanen-Raum". Es wird also auch im Aussehen nicht viel Unterschied zwischen den Angelländern und den Zuwanderern aus dem Nordosten bestanden haben, schreibt Jarman. Die freilich zuweilen in ihren Mitteln nicht gerade zimperlich waren, und oft von purer Raublust getrieben waren. Aber ihr Ruf war nicht nur schlecht. Immerhin bedeuteten sie das Tor zu einer immensen Weite der Welt.

In ihrem Buch schildert Jarman ihre Untersuchungen, die sie einmal nicht (nur) bei den herkömmlichen Mythen beginnen läßt. Sondern bei schriftlichen Zeugnissen der Jahre um 862. Die belegen, daß die Skandinavier, die "Vikinger", in jenen Jahren zu Zehntausenden ihr "großes Winterquartier" entlang der Flüsse Humber und Trent aufgeschlagen hatten. Aus der Entfaltung ihres Lebens, die dort archäologisch erkennbar wird, wird ein Lebensbild erkennbar, das in manchem überrascht. 

Weil sie auch in Mittelengland allem Anschein nach sehr friedlich mit der ansässigen Bevölkerung in einer Art Symbiose zusammengelebt haben, in der sie regelmäßig kamen - und gingen. Um ihre Schiffe (die sowohl für das Befahren von Flüssen wie auch des Meeres geeignet waren) und Waffen instand zu setzen, ihre Kleidung aus englischer Wolle (aus der sich auch die besten Segel machen ließen) zu ergänzen oder auf den neuesten Stand der Mode zu bringen. Auch, um frische Pferde zu kaufen. Und ab und an auch zu heiraten, sogar interkulturell sozusagen. 

Die höchst umfangreichen Artefakte, die man in England (und von Fragestellungen in diesem Zusammenhang ausgehend, in ganz Skandinavien) findet, zeugen nicht nur von einem Leben als Weltbürger, das sich vom Atlantik bis Peking erstreckte, sondern von Menschen, die gerne Moden folgten und Eitelkeiten pflegten, und die von Sehnsüchten nach einem guten Leben geprägt waren. 

So kann man davon ausgehen, daß gefundene Schmuckstücke gerne einmal arabisch aussehen, aber Imitate sind, auf denen auch Schriftzeichen nicht fehlen dürfen, die gar nichts bedeuten, sondern einfach schön arabisch aussehen. Denn auch das war offenbar recht modern und zeugte von Weltkenntnis. Das war damals nicht anders als heute.  

Das Bild des menschenfressenden und frauenvergewaltigenden Vikingers muß jedenfalls wesentlich differenzierter angelegt und korrigiert werden. Keineswegs waren alle Norden wild, schon gar nicht mehr in dieser Zeit. Die meisten wollten ohnehin schon früher ganz einfach leben, suchten Ackerland, und generell bessere Lebensbedingungen als im kalten Skandinavien mit seinen ewig langen Wintern. Und sie waren durch ihre Ausbreitung, ihre Verbindungen DIE Händler Nord- und Westeuropas geworden, die als Verbindungsbrücke mit der Seidenstraße und den Gütern des Vorderen Orients rasch und häufig zu Wohlstand kamen. 

Die Vikinger haben also eine Welt als große Klammer umspannt, die nahezu die gesamte damals bekannte Welt ausmachte. Sie haben sie so zu einem Raum, zu einer Welt gemacht. Die Fundstätten der Vikinger sind damit auch ein Einblick in eine vielfältige Welt, die von den Nordmännern geschützt wurde. 
Letztlich gründet ihr Ruf als "Wilde" also darauf, daß sie die Bedingung für einen Lebensraum schufen, in dem Menschen aus vielen Völkern und Volkschaften ihr Leben entfalten konnten. 

In dem Maß, in dem diese Welt unter der Oberhoheit der Vikinger zu einer wurde, setzten also die großen Wanderungen ein. Auf sozial gewordenen Wegen kamen nun auch viele und ließen sich in Skandinavien selbst nieder. Die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts ist diese Phase.

In Birka in Südostschweden läßt sich diese Entwicklung innerhalb von dreißig Jahren erkennen. Handwerker, Händler mit Verbindungen in ihre ehemalige Heimat, Seefahrer und Abenteurer, während die Rolle der Bauern einerseits zurückgeht, anderseits eine neue Bedeutung bekommt, als sich die Vikinger assimilieren, und mit der Scholle verwachsen, die sie sich erobert haben und ihr Raum wird. 

So muß weil kann man es sich vorstellen. Denn auch mit der weltweit üblichen Sklavenhaltung - der Handel mit Sklaven aus dem Osten und Süden war zu allen Zeiten eine Säule des Wirtschaftsverkehrs, nicht nur in jener Zeit - ist diese archäologisch feststellbare starke Vermischung kultureller Artefakten weitester Herkunft (die bis China und Afrika reicht) nicht zu erklären. (Siehe Anmerkung*)

Auch bei den Vikingern waren die Sklaven Teil des Haushalts, ja Teil der Familie, des Hauses, das immer wesentlich weitergedacht wurde, als es heutigen "Familienförderern" in Politik und Sozialwesen bewußt ist. Die in der Regel einem Zerrbild von Familie nachjagen, das es weder je gab, noch ist die Vati-Mutti-Kind-Idylle im schön eingezäunten Einfamilienhäuschen am Waldrand ein erstrebenswertes, das Gemeinwohl darstellende Ziel. 

Morgen Teil 2) Was aber bleibt? Der Sand in unseren Augen. Nicht nur die Vikinger gingen freilich unter, als sie Christen wurden, und damit bleibend. Aber vielleicht sehen wir genau deshalb deren letzte - aber nur die - in Walhalla


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