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Mittwoch, 7. September 2022

Das Leben zurückholen (2)

Die neue Suche nach unserem gestohlenen Leben. Und wo wir es finden.Wenn man die heutigen Geburtenzahlen in Ungarn ansieht, zeigen sie dasselbe an wie in ganz Westeuropa: Der eklatante Rückgang (bis Mai 2022 waren es angeblich fast 20 Prozent) signalisiert den Verlust von "Leben", in mehrfacher Hinsicht. Auch an den Hochzeiten, die ich früher so häufig beobahten konnte, denn sie werden traditionell nach dem Akt am Standesamt und in der Kirche mit einem hupenden Autokonvoi der Stadtgemeinde angezeigt* wurden. Sie finden deutlich seltener statt, auch wenn ich keine offiziellen Zahlen kenne. Oder nur stiller? Aber sind das dann noch Hochzeiten?

Eben diesen Eindruck, daß alles schwächer, verloren oder zumindest verschwundener ist, habe ich allerorten, ja selbst bei mir: Diese letzten drei Jahren haben alles nahezu ausgelöscht, was vorher "mein Leben" gewesen ist. Kaum eine Gewohnheit hat überlebt, fast alle Alltäglichkeiten und Lebensweisen haben sich zu neuen Gewohnheiten formiert, Früheres müßte völlig neu aufgebaut werden. Und nichts entmutigt mehr als Sisikphos-Arbeiten. Man sieht auch kaum einen genug anregenden Ansatz dazu, also eine Notwendigkeit, Altes wieder aufzunehmen, das Leben also neuerlich umzubrechen, "zurück" zu drücken. 

Selbst das religiöse Leben, das ein Leben im liturgischen Jahreskreis als erstem Taktgeber der Lebensordnung ist, das Hand in Hand mit dem Gesellschaftsleben, den Erntefeiern, den Lesefesten, den Jahrmärkten und so weiter geht, und als solches die erste Grammatik jedes Lebens ist, blieb davon nicht unberührt. Ich besuche andere Gottesdienste, andere Feiern, andere Lituriefeiern, ja ich habe sogar mein Gebetsleben und dessen Rhythmen umgestellt, weil frühere Riten, speziell im Wechsel zwischen privat und öffentlich, unmöglich wurden. Auch aus andern Pfarren habe ich gehört, daß die Besucherzahlen heute merklich zurückgegangen sind: Die zweieinhalb Jahre haben ausgereicht, viele Pflanzen und vor allem Pflänzchen auszureißen. Ein Diabolos und unerträglicher Zyniker, der daran Gutes finden will, vielleicht nach dem Motto "weniger, aber besser."

Viel hat sich dabei auf privaten Raum zurückgebildet, vor allem damit hat das wohl zu tun. Aber der Irrtum ist, daß dann vieles ohne öffentliche, soziale Seite einfach nicht mehr besteht. Vieles, sehr Vieles, das man als "persönlich" dünkt, ist in Wahrheit sozhialer Akt! Das Soziale, das öffentliche und allgemein vollzogene Ritual ist nicht der eigentlich unnötige Zuckerguß, sondern das Wasser, in dem der Fisch alleine atmen und schwimmen kann. 

Der Einzelne ist zu überwiegenden Teilen nur Teil eines Ganzen, und vollzieht zwar selbst und "individuell", was aber in Wahrheit allgemeiner Atem ist. (Im Ahnenkult findet man das ganz deutlich.) Und vor allem an diese fundamentalen Züge des menschlichen Wesens hat eine gewissenlose, dumme, verbrecherische Macht die Hand gelegt, und möchte sie schier gar nicht mehr zurückziehen. Gott möge sie vom Erdboden tilgen (Psalm)

Viel, ja sogar viel mehr als früher erledige auch ich heute über Internet, oder gar nicht mehr. Regelmäßige, auch simple Rituale des Alltags sind erloschen. War ich früher häufiger hier oder dort - es hat aufgehört und bildet sich, einmal aus dem Selbstverständlichen herausgerissen, auch nicht einfach neu. Im Konzerthuus, wo ich früher regel-mäßig meinen Platz gebucht hatte, war ich nicht mehr, selbst wenn es schon sicher länger als ein Jahr wieder "normal" möglich gewesen wäre. In diesem oder jenem Restaurant, früher gut bekannter Gast, fühle ich mich heute als Fremder. Und die Liste ließe sich noch lange fortführen.

Dafür fühle ich mich von Themen beherrscht, die sich als "wichtig" und "weltentscheidend" aufdrängen, denen ich diese Bedeutung bei näherem Nachdenken einfach nicht abnehme. Dennoch domineren auch im Bekanntenkreis lauter "Welt-"Themen, globale Lagen, als gäbe es - und das ist es eben - als gäbe es gar kein kleines, regionales, bescheidenes Leben mehr. Als hätte dieses "mein" Leben keinen Inhalt mehr - als hätte man mir mein Leben gestohlen, als wäre dieses verdampft, als fände ich es nicht mehr. 

Und so habe ich mich entschlossen, mich wieder auf die Suche zu machen. Tag für Tag neu, auf der Suche nach dem "gelungenen Tag" wieder dort anzusetzen, wo meine Nasenspitze auch den Horizont bedeutet, bis zu dem ich blicke. Dem Stein am Boden, dem Geplaudere im Kaufhaus, neue Inhalte abzugewinnen, die doch nur die alten sein sollten, die wie alle aber verloren haben. 

Und ich fühle, wie sich all mein Zorn, meine Wut, die deutlich in mir gewachsen sind in diesen letzten Jahren, erst dann wieder lindern wird, aufhören, mich zum Teil des Lebens anderer zu machen (denn das macht die Wut, das macht der Zorn mit einem: Er entreißt einem das eigene Leben, macht es zum Teil des Lebens eines anderen) und der Spur meines ureigenen Sinns wieder zu folgen. Das Geraune des logos wieder zu hören, das mir aus dem konkreten Begegnenden entgegenweht, und von dem alles Maß an Lebensgeglücktheit doch abhängt.

Denn es stiummt auch das nicht, was aus der Logik der Verwirrung der Moderne hervorgeht, und uns nun sagt, daß alle unsere Erfüllung "in uns" läge. Nein, das haben diese letzten zweieinhalb Jahre gezeigt: Es ist das Außen, es ist die soziale Umgebung, es ist "die Gesellschaft", in meinem Horizont, die mein Leben füllen, es reich machen, und die Aufgaben stellen, die nur ich erfüllen kann. Schneidet man das ab, schlägt man dieses soziale Umfeld tot, drückt man den Menschen in ihn selbst zurück, und dort herrscht ... Weltenleere. Ohne Welt, und das heißt: ohne Anfrage ans Ich, die vom Anderen, vom Außen kommen muß, immer in ihrem Anfang etwas Überraschendes, Ungekanntes hat, das dann durch die Eigenaktivität exploriert wird, und dsa heißt ja: Leben, stirbt aber der Mensch. 
Man kann an der Welt ersticken, das stimmt. Man kann an ihr zu viel haben, und die Welt neigt dazu, zu viel für den einzelnen zu sein. Aber der Weg zum Geglücksein führt durch diese Fülle, die die Fülle des Amorphen ist, des ungeformten "Alles", durch, und Persönlichkeit (als die Welthaftigkeit wie -haltigkeit der Person, die im Menschsein mit dem Geistigen zusammengeschlossen wird - das nennt man dann Kultur) heißt letztlich sogar nicht weniger als die Kraft aufzubauen, das Wesentliche zu bestimmen, nach seinem Maß zu halten und somit die Welt vom Alles zum Bestimmten zu reduzieren. 
Die Welt niederzuschlagen, den Einzelnen also - künstlich und per Zwang - zu isolieren ist nicht nur eine bekannte Form der Folter ("Isolations-" oder sogar "Dunkelhaft"), sondern sie ist die gezielte Herbeiführung des Todes weil des Endes des Eros der Welt. Jener Kraft, die den Einzelnen wieder und wieder und jeden Tag neu zum Weltsein inspiriert. Selbst dort, wo er mal nicht bewßt den Gedanken dazu aufbringt. Als Umfangenheit aber mit dem Geist, der größer als der Einzelne ist, und uns Leben einhaucht, wir müssen es nur zulassen.

Wir müssen uns das Leben wieder zurückholen! Und dazu müssen wir abwehren, was es uns weiterhin rauben will. Auf daß es sich neu um den rhythmischen Kern der aller Welt zugrundeliegenden göttlichen Ordnung formieren kann. Aber dazu werden wir in einem ersten Schritt die Schuhe wieder ausziehen, und in die feuchte Erde steigen müssen.


*Was so schön daran erinnert, daß die Ehe ein sozialer Akt ist. Als Pakt, der nur funktionert, wenn er wechselseitig - Paar und Öffentlichkeit, Eheleute und Umgebung - geschlossen und respektiert wird. Keine Ehe läßt sich "nur für sich" führen, kein Ehepakt ist "nur unter Zweien" beschlossen. Diesbezüglich herrscht leider auch so viel Verwirrung. Die Ehe ist ein Ganzes (wei die Ganzwerdung jedes Menschen), das der Gesellschaft dann gegenübersteht, mt ihr korrespondiert, und beider (!) Gelingen oder Brechen ist voneinnder abhängig. Die Ehemüdigkeiti der Gegenwart, ja die kollektive Eheverweigerung, die bei den Jungen zu beobachtne ist, ist deshalb mit Sicherheit das letzte Stadium einer Kulturauflösung. Das wäre schon in der Geschcihte des antiken Rom deutlicher erkennbar gewesen, wäre nicht im 3./4. Jhd. durch das Christentum eine partielle Neugründung und Überformung der Kultur geschehen, die die äußere Staatshülle noch dreihundert Jahre (in Byzanz 1200 Jahre) länger bestehen hätte lassen. Gibson (und die vielen, die ihm gefolgt sind) haben also Unrecht wenn sie behaupten, daß es das Christentum gewesen sei, das Rom zum Einsturz gebracht habe. Der krachend gescheiterte Restaurationsversuch von Kaiser Julian Apostata im 4. Jhd. hat zumindest das bewiesen: Das Heidentum war lange schon tot.



Erstellung 05. September 2022 - Ein Beitrag zur