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Dienstag, 6. September 2022

Das Leben zurückholen (1)

Das Konzept, das dem totalen Umbau der Innenstadt von Sopron vor fünf Jahrenzugrunde lag, war auf ein Anhalten und Verstärken des Trends der Jahrte zuvor ausgelegt. Die den allmählichen Umbau der früheren Industrie- und, seit der Öffnung 1990 (aber in rasendem Tempo wieder als solche jede Bedeutung verlierenden) Einkaufsstadt Sopron (Ödenburg) zu einer Stadt des Gesundheitstourismus und der Sightseeing-Besuche vorgesehen hat. 

Mit guten Cafés, Restaurants, Parks, der Umwandlubg des gesamte Altstadtkerns in ein Museum und überhaupt netten Verweilmöglichkeiten wollte sich Sopron als Ausgangs und Stützpunkt für weitere Erkundungsreisen ins Landesinnere neu erfinden. Sogar eine Autobahn nach Györ und weiter dann nach Budapest wurde gebaut, die Hauptstadt ist mit dem Auto nun in unter zwei Stunden erreichbar. 

Unter Neubewertung aller seiner realen, bereits vorhandenen und noch verbliebenen Möglichkeiten sah sich Sopron vor allem auch als ungarischen Zugang zum südlichen Neusiedlersee-Gebiet. Eine entsprechende Neugestaltung des gesamten Uferbereichs des kaum 5 Kilometer entfernten Fertörakos war geplant, und mit dem Bau wurde (unter heftigen Protesten von Naturschützern) auch schon vor drei Jahren begonnen. Denn die Trennung von Österreich und Ungarn ließ den Magyaren nur den (angeblich aus wirtschaftlichen Gründen notwendig nachträglich reklamierten) Schilfgürtels im Süden, der nun zu einem Bade- und Freizeitressort mit offenen Wasserflächen ausgebaut werden sollte, um die längst bewiesene Fremdenverkehrstauglichkeit des österreichischen Teils des Sees nachzuahmen.

Aber das Konzept einer Soproner Zukunft hat eine schwere Delle bekommen. Zwei Jahre Coronawahnsinn und die nun folgenden Unsicherheiten, wo immer diese Angstbilder auch herstammen mögen, haben einen Kahlschlag bewirkt, der zumindest aus momentanem Gesichtspunkt kaum wieder aufzuforsten scheint. Alle Geschäftsleute an der Soproner Ringstraße, dem Varkerület, singen dasselbe Lied. Die letzten beiden Sommer waren gut, sehr gut sogar, aber es gelingt nicht, den Trand von vor 2020 weiterzuführen. 

Gerade mal werden die früheren Besucherzahlen wieder erreicht, an guten Tagen. Die alten Stammgäste, die einen Besuch im Schönheitssalon, beim Friseur oder beim Zahnarzt mit einer Einkaufspause und einem Essen in den Gaststätten verbunden haben, sind zwar zu einem guten Tiel wiedergekehrt. Aber viele sinc nach wie vor ängstlich. 

"Trotz vier Impfungen," setzt der Freiseur nach. "Wovor fürchten Sie sich," fragt er sie dann? Sie zucken mit den Achseln. Dann prustet die aus der Bitterkeit entstandene Schadenfreude aus ihm heraus: "Einer ist viermal geimpft. Jetzt hat er ganz schwer Covid bekommen, Zwei Wochen über 39 Fieber, vier Wochen krank. Also wozu impfen?" Natürlich ist er (trotz seiner 73 Jahre) nicht geimpft, so wie ich. Wie man ja überhaupt hier schon lange (so lange, daß ich nicht einmal sagen könnte, ob es nicht schon zwei Jahre sind; die "strenge Zeit" war kurz, zumindest in der Erinnerung) nichts von einer Pandemie merkt. Wer Masken trägt ist damit als Wiener erkennbar. 

Aber neue Kunden bleiben überall aus. Auch die Masseuse, die mir alle paar Wochen Linderung in den Rücken hämmert, bestätigt einen Rückgang. Denn auch nicht alle früheren Gäste können die neu entstandene Scheu überwinden, die Grenze, die instinktiv als "Kontrollpunkt" wahrgenommen wird (auch wenn die Ungarn sowieso, seit Monaten auch die Österreicher so gut wie keine Kontrollen mehr durchführen, die Grenzmodalitäten nahezu den alten freizügigen Standard wieder erreicht haben) zu überqueren.

Dafür soll das erst vor fünf Jahren errichtete Einkaufszentrum im grenznahen, aber österreichischen Siegendorf deutlich weiter ausgebaut werden, um mehr Soproner anzuziehen. Immerhin wird der kleine Ort, dessen frühere Zuckerfabrik einer der so sinnvollen EU-Marktbereinigungsmnahmen zum Opfer fiel und einen völlig sinnlosen Ort zurückließ, deutlich an Bedeutung gewinnen und noch mehr Kaufkraft von Ödenburg abziehen. 

Schon gar, nachdem Österreich entschieden hat, die Autobahn von Sopron aus NICHT direkt weiterzuführen, um sie ans österreichische Autobahnnetz anzuschließen, sondern für diese 15 Kilometer Fehlstrecke die bestehende Landstraße zur Entschleunigung beizubehalten. Wobei ich das für durchaus sinnvoll erachte; binnen Wochen wäre die neue Autobahn zwischen Sopron und Fertö (der Neusiedlersee wird in Ungarn "Sumpf" genannt) dicht befahrene Ausweich- und Transitstrecke. Damit wird aber die Landstraßenkreuzung, an der das Einkaufszentrum steht, neuralgischer Punkt bleiben.

Aber in allen Gesprächen mit den Geschäftsleuten hier schwingt dieselbe Sorge mit: Daß man wieder einmal "von vorne" beginnen müsse, um wenigstens das Bestehende zu erhalten. Einem (geschätzten) Fünftel der Geschäftsleute ist das nach diesen drei Jahren Erschütterung nicht gelungen, sie haben ihre Läden dichtgemacht. Darunter leider auch das einzige Fischgeschäft der Stadt, zwei Fischrestaurants (die besonders auf tagesfrischer, rasch revolvierender Ware beruhen) haben ohnehin schon im ersten Jahr Coronasperre das Handtuch geworfen. 

Auch der Franchise-Italiener in der Lenck-Passage, der zwar hervorragende, ja eine der besten Küchen am Ort hatte, sich aber immer schwer zu tun schien, sich zu etablieren, hat nun definitiv geschlossen. Ihm aber ist nun ein Nachpächter gefolgt, der sicher für einen Apfel und ein Ei die gute vormalige Ausstattung erwerben hatte können. Aber wie symptomatisch wirkt es dabei, daß die einzigen mir bekannten "neuen" Lokal der letzten drei Jahre am Várkerület ein auf Jugend getrimmter Kebabladen (als Filiale einer Pizzeria) und ... dieses "Vegane Restaurant" sind, das dem Italiener in der Lenck-Passage nun folgt. Kulturfremdheit und Ideologie als Lebensweise, die einzige Heimatausstattung, die noch überleben kann? War der Italiener ums Eck je kulturfremd? 

Apropos. Seltsamerweise hat der winzige Chinesenladen fünfzig Meter weiter, in dessen kleinem Lokal keine fünf Leute Platz haben ... überlebt. Vielleicht, weil die Chinesen wie man hört überall zusammenhalten? Und es gibt hier eine kleine Kolonie rund um die paar (mir nicht faßlich großen) Ramschdiskonter.

Was Corona nicht erledigt hatte, wird aber nun durch die Inflation, die sich vor allem im Import spürbar macht, vollendet: Wo die Kraft offenbar gerade noch gereicht hat, um nach Corona wieder aufzusperren, ist sie manchem angesichts der Nachfrageinbrüche durch die exorbitanten Preissteigerungen (Ungarn importiert nach wie vor die meisten seiner Konsumwaren) endgültig ausgegangen. Nun gibt es in der Innenstadt nicht einmal mehr einen Elektrohändler, bei dem man - wie bei dem, der nun schloß - alles bekommt, was im Haushalt eben so an Klein- und Verschleißzeug gebraucht wird.

Denn es sind natürlich vor allem die kleinen Läden, die schließen. Deren Existenz eben nie mehr ist als das, was so manche Idioten, die sich als Fachleute aufspielen, zynisch als "Zombieunternehmen" bezeichnen, und deren "Ausputzen" verlangen, das sie als "Hygienie der Krisen" ansehen ... Gibt es doch schon seit fünfzig Jahren kaum einen Kleinbetrieb, schon gar einen selbst gegründeten, der noch mehr sein kann als "prekär". Kapitalreserve, die schon früher nur über Generationen aufgebaut werden konnte, kann heute praktisch kein Kleinbetrieb mehr schaffen. Der schon froh sein muß, wenn er eine Mischkalkulation "am Markt" durchsetzen kann, sofern er das überhaupt kennt, denn dann lebt er ohnehin nicht lang. Die Zeiten haben sich in den letzten fünfzig Jahren wirklich radikal geändert, und weden immer noch schärfer. Dank der menschenverachtenden Politik der "Gschwöllschädel" (cit. Polt), einmal mehr muß man das sagen.

Der Cafetier, in dessen Straßengarnituren ich mich bisweilen zu einem Kaffee niederlasse (aber auch hier gibt es das mir immer so wichtige "das Übliche?" nicht mehr, selbst dabei haben sich frühere Selbstverständlichkeiten erledigt), um das Treiben auf den Straßen zu beobachten, kann dem Schicksal nciht genug danken, das 2019 alles so fügte, daß er damals denn doch nicht den Entschluß gefaßt hatte, ein zweites Lokal aufzumachen, weil sein bisheriges Lokal so gut lief, schon zehn Jahre alle Zahlen nach oben wiesen, sodaß er meinte, er könne einen nächsten Schritt wagen - es hätte ihn mittlerweile erwürgt.

Während die Spezialitätenhändlerin, deren Produkte auf touristisches Publikum ausgerichtet waren, unlängst fast verzweifelt ihr Herz ausschütete, daß sie so lange darauf hin gearbeitet habe, im Anbruch ihrer fortgeschritteneren Jahre endlich ein bißchen weniger arbeiten zu müssen, gar einen Angestellten aufzunehmen, um sich den einen oder anderen freien Tag oder gar, nach zwanzig Jahren Aufbauarbeit, einen Urlaub leisten zu können - aber nun stehe sie da wie in ihren Anfangszeiten. wo sie um Kosten zu sparen alles selbst machen, jeden Tag hinter der Pudel stehen, und abends ihre Büroarbeiten machen müsse. Alles, um das Geschäft wenigstens zu erhalten.

Es ist überall derselbe Kampf. Es ist der Kampf, sich sein Leben wieder zurückzuholen, das seiti 2020 förmlich zerschlagen worden ist. Und es ist ein Kampf, den nicht nur die Geschäftsleute führen. Allen geht es darum, wieder ein Leben zu führen, das NICHT von universalen Sorgen und überdimensionalen Denkgebäuden dominiert ist. Das wie zuvor aus den alltäglichen Aufgaben besteht, aus all den Zwischenmenschlichkeiten und Ereignisen, die das Leben vor 2020 bestimmt haben, und zwar seit je und wie immer.

Morgen Teil 2) Die neue Suche nach unserem gestohlenen Leben. Und wo wir es finden.