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Mittwoch, 14. September 2022

Der Mann, der die Medizin neu erfand (1)

Es war einmal ein Junge, der mit seinem Vater kreuiz und quer durch diedamals schon Vereinigten Staaten fuhr. Und der dabei besonders den noch recht rauhen Westen liebte. Weil der noch keine Ordnung hatte, sich darin also dem alle Chancen auftaten, der die für diesen revolutionären Traum vom selbstgeschaffenen, niemandem zu verdankenden Glück so grundlegende Eigenschaft der Skrupellosigkeit pflegte.

Aus der sich dann auch die Wertelandschaft dieser Ansammlung menschlich Entwurzelter und Haltloser so herrlich am Magnet von Erfolg und Geld (manche nannten das früher Mammon, die aber im Calvinismus zum Signum der Erwählung durch Gott selbst geworden war) ausrichtete.

Wo fand man sonst noch auf der Welt eine jungfräuliche Landschaft, in der der Aufwand, die Einheimischen zu vertreiben so gering, der Ertrag aber umso höher war. Weil es nicht nur darum ging, Erfolg zuhaben, sondern man auch die Kriterien, nach denen etwas Erfolg und Glück war, selbst bestimmen konnte. 

Und wer von diesen Millionen und Abermillionen, die Europa, das gerade explodierte und dabei war, erstmals den Typus des "Modernisierungsverlierers" zu schaffen, in wahren Monsterwellen an die Küsten warf, würde dieses neue Kriterium NICHT als wichtigstes im Leben anerkennen? Wo doch gerade der Mangel am Geld - das sie so gerne gehabt hätten - für sie der Grund gewesen war, ihre Heimat verlassen zu müssen zu meinen. Man mußte sich nur göttlich genug fühlen.


Dieser Mann also befuhr die Ortschaften und Städte und Dörfer dieser neu zu gründenden Zivilisation. Die Geld verehrte wie einen Gott, und versuchte "Medizin" zu verkaufen. Dumm und ungebildet, wie die Menschen waren, technikgläubug (wie jeder, der meint, er würde alles sich selbst verdanken) und dabei doch noch von der althergebrachten, europäischen Prägung voller Zutrauen zu den Menschen, dabei voller menschcliher Bedürfnisse und auch schon mit ein wenig Geld ausgestattet, konnte er dort alle möglichen selbstfabrizierten Wässerchen und "Heilmittel" verkaufen. 

Denn eine Medizin, wie wir sie heute kennen, gab es ja noch nicht, also nicht so wirklich. Und wenn es schon Ärzte gab, vielleicht auch aus Europa gekommen, manche sogar mit wirklicher Liebe zu den Menschen ausgestattet, so lebten die noch auf dem althergebrachten Menschenbild des Abendklandes. In dem der Mensch als jemand gesehen wurd,e der sich letztlich selbst heilen mußte. 

Das einzige, was der Arzt dazu beitragen konnte, waren Ratschläge und Kenntnisse zur "Askese" (wörltich: Dem guten, der eigenen Natur gemäßen Leben). - und darüber hinaus kannten sie noch so manche MIttel, die zumeist jeder selbst anfertigenund anwenden konnte, weil ihre Bestandteile einfach der Natur entstammten. Tees, Kräuter, Salben - das eiste war über Generationen, ja Jahrhunderte und Jahrtausende bekannt, ja sogar Volkswissen. Dazu kam noch der eine oder andere praktische Handgriff, vor allem aber viel gesunder Menschenverstand, ja Weisheit. 

Sogar in meiner eigenen Kindheit, die ich in den 1960ern in einer niederösterreichsichen Kleinstadt verlebt hatte, hatten die meisten Menschen nur einen Arzt - den Hausarzt. Den man nicht nur nicht wechselte, weil zur Medizin die Kenntnis des Patienten äußerst hilfreich, ja notwendig war, sondern ich erinner diesen "unseren" Hausarzt, den jeder nach Geschmack und Vertrauen wählte und bei dem er unabänerlich blieb, stets als älteren, sehr weisen Mann. Der einen mit sanften Händen abtastete und berührte, der einem in die Augen sah, dann die Lider, und ab und an ein wenig am Bauch horchte und drückend fühlre, oder mit sienem Stethoskop abhörte. 

Der in jedem Fall aber wie ein Hörender, Fühlender wirkte, dessen Ratschläge trocken und ausgesucht kamen, während man sich wieder ankleidete, oder man wieder unter der Bettdecke verschwand, etwa bei Hausbesuchen. Und eher konsultierte man sowieso keinen Arzt, als nicht der eigene Verstand am Ende war. Oder die gesundheitliche Lage nach erfolglosen Versuchern der Mutter, der Oma oder der Tante, die man herbeigeholt hatte, die alle dann versuht hatten, unter Ausprobieren aller Hausmittel einem wieder auf die Beine zu helfen, sich zur echten Bedrohung veränderte. 

Und der nicht selten - sofern er überhaupt ein Heilmittel verschrieb, das nicht sowieso zum allgemein gehaltenen Hausvorrat der Mütter  gehörte. Denn es ist ja immer die Mutter, die sich um alle kümmert, die eine Familie überhaupt erst zu einer Familie macht. 

Gefühlt, beendete er seine Anamnese meist mit ein paar Ratschlägen. "Machen Sie Essigpatscherl (oder Topfenwickel, Krautwickel, Kamillenteeumschläge, was auch immer), jeden Morgen und jeden Abend. Wenn sich das nicht in drei Tagen gebesser hat, komme ich wieder." Und alle atmeten auf. "Ist es also nichts Ernstes, Herr Doktor?" "Nein, passen Sie nur ein bißchen auf. Liegen bleiben, gut zudecken, junger Mann, viel schlafen, in zwei Wochen ist das vorbei," 

Wenn es aber dann doch nciht dabei blieb, so nahm er also seinen Block, und schriebl ion seiner unmöglich zu entziffernden Handschrift ein Heilmittel. auf, das es dann aus der Apotheke zu holen galt. Eine Salbe, ein Pulver, Tropfen, manchmal (aber sehr selten) auch ein bereits existierendes, fertig hergestelltes Medikament. Das fortan in einer Schachtel am Nachttisch lag, und jeden Morgen oder Abend brav eingenommen werden mußte. 

Nicht selten, ich erinnere mich persönilch daran, schrieb er sogar eine Rezeptur auf seinen Schreibblock. Von daher kam wohl dessen Name: Rezeptblock. Die er aus dem Gedächtnis oder unter Konsultaton eines abgegriffenen Buches mit Seiten aus dünnem Papier, das er ebenfalls in seinem Doktorkoffer mitführte, aufschrieb.

Irgendjemand aus der Familie lief dann zum Apotheker am Hauptplatz. Der dann mit Mörser und Waage und Spatel und unter Frequentierung seiner unzähligen Dosen und Porzellanflaschen das Medikament herstellte, mischte, wog, schüttelte, ehe es über den Tresen wanderte und man die paar Schillinge zahlte, die das kostete.

Ich kann mich aber generell nicht erinnern, daß einer dieser Ärzte in dieser niederösterreichischen Kleinstadt "reich" wirkte. Nach dem Tod des erste, des ältesten, den ich erinnere, wechselte meine Muter (und damit wir Kinder) zu einem noch jüngeren Arzt, der bis in seine Pension, ich erinnere ihn auch dahingehend, einen VW-Käfer fuhr, wenn er zu den (nicht sehr häufigen) Hausbesuchen kam, und vor dem Haus hielt. Nein, reich wirkte er nicht. Ja, man wußte von den Ärzten, daß sie da oder dort ein Haus in der "Villengegend" bewohnten, aber von Protz oder Prunkt - keine Spur. 

Nur der Lungenarzt, den wir einmal im Jahr konsultierten (aus Angst, daß mein Vater die TBC, die er aus em Entsatzversuch vor Stalingrad aus dem Krieg heimgebracht hatte, und nie mehr ganz los wurde, an uns weitergegeben haben könnte) ragte ein wenig heraus. Und heute weiß ich auch warum. Denn das hatte  mit dem großen Röntgenapparat zu tun, der einen ganzen Raum in seiner Ordination ausfüllte, und an dessen vorne angebrachte (immer eiskalte) Platte ich jedes Jahr meine nackte Brust drücken mußte. 

Schon damals machten die Apparate den Arzt zu einem Unternehmer, und oft habe ich dann in späteren Jahren, wenn ich mit Ärzten und Ordinationen als Bauunternehmer zu tun hatte, die Beobachtung gemacht, daß jeder Arzt mit besonderem Eifer darum bemüht war, möglichst viele Apparate in seinen Ordinationsräumen unterzubringen. Gefühlt ließ sich die Kubatur des gebauten Gebäudes in eine gewisse  Potenz des Verhältnises dieser Zahlen zueinander ablesen. Die größte (und architektonisch aufwendigste) Ordination habe ich deshalb auch für einen Arzt gebaut, der eine ganz beträchtliche Zahl von dicht ausgestatteten "Behandlungsräumen" eingeplant hatte. 

Und ich kann mich an keinen Allgemeinmediziner erinnern, dem ich ein Haus gebaut habe, der NICHT auch eine eigene Apotheke sein eigen nennen wollte. Und der Energie, die er diesem Kapitel widmete mußte ich entnehmen, daß davon die Finanzierung seines Neubaus sehr wesentlich abhing.

Aber das fällt bereits in eine Zeit, in der sich die Érinnerung NUR NOCH an Ärzte erinnert, die auch reich oder zumindest wohlhabend waren. Es muß so in den 1970ern begonne haben, daß Arzt und Großer Wohlstand zum Synonym wurden. Wobei es - wieder: Bei den Apparaten!? - mit den Ärzten des Krankenhauses begann, das in jenen Jahren von einem kleinen Spiral, das von Ordensschwestern betreut wurde (sic!), Die ihren Dienst an den Leidenden mit viel Gebet salvierten. Das Rosenkranzhbeten über ganze Gänge hinweg war noch in den 1960ern üblich und völlig normal. 

Aber dann begann der sozialistsche Geist der "Reformen und Verbesserungen" einzuziehen, mit denne das rückständige Land in die Zukufnt geschossen werden sollte. Aus dem kleinen Krankenhaus wurde mittele einer riesigen Baustelle ein "hochmodernes" Bezirkskrankenhaus, das voller Apparate und Maschinen war. Aus neen den zwei oder drei zweigeschoßigen Gebäudeblöcken enwuchs unter einem allseits als "besonders tüchtig" bekannten SPÖ-Bürgemeister (und Anfang der 1970er wurde gefühlt alles in Österreich sozialistisch) ein riesiger siebenstöckiger Bau, der alle Stückel der zeitgemäßien Technik spielte. Vom Aufzug bis zu ganzen Trakten, die Operationssäle enthielten. Und mit einem Schlag war es auch kein Spital mit religiösem Charakter mehr, sondern mit einem mal schein das gesmate Personal weltilch zu sein.

Dieser Wechsel vom Religiösen zum Weltichen, zum "Wissenschaftlichen", zum "Modernen", ging mit einer völligen Umprägung des Charakters des Gesundheitswesens einher. So empfand ich es, und das schienen alle so zu sehen. Es aren auch diese Jahre, in denen sich überhaupt Art und Stellung der Ärzte veränderten. vom Krankenhaus ausgehend, wo es nun die ersten "sehr reichen" Ärzte gab. Der Mann, den ich in diesem Zusammenhang am intensivsten erinnere, war Chirug, und nicht nur das: Er war "Primar". Bald folgten im noch jede Menge dieser Menschheitsspezies, mit denselben Begleiterscheinungen, was ihre finanzielle Situation anbelangt.

Also will ich nun noch einen Punkt einschieben, und auch er hat mit dem Hauptpunkt dieses Essay zu tun, die - wie unten dann definitiv deutlich wird - die Veränderung der Medizin im 20. Jahrhundert behandeln soll. Denn mir fällt auch ein, daß die Hausbesuche des Arztes (selten genug, aber doch) immer mit einem Akt des "Zahlens" endeten. Oder: Man bezahlte den Arzt! 

Ich bin mir dabei über eines völlig sicher. Auch wenn ich mit meiner Mutter darüber nie gesprochen habe bin ich sicher, daß dies trotz der finanziell äußerst bedrückenden Lage meiner Mutter in diesen Jahren nie ein Grund war, den Arzt NICHT zu holen. Auch in Zeiten, in denen es noch keinen Rundumsozialstaat wie heute gab. Wo es noch jede Menge "sehr bescheidene lebender" Menschen wie uns gab. Und wir auch nicht die einzige Familie mit zwölf Kinder waren. 

Das war zwar nicht wirklich häufig, aber so selten auch wieder nicht. Wiewohl wir eine Familie mit einem schwerkranken Vater waren, ich deute also da nur einen oft recht bedrückenden Umstand an. Damit will ich aber auch sagen, daß ich die Vermutung habe, daß der Arzt niht nur ein geringere Honorar verlangte, sondern ich meine mich sogar zu erinnern, daß er einmal gar kein Geld annehmen wollte. Es gab also da eine soziale Komponente, die der später unter den Sozis eingeführte Sozialstaat vorgab auch zu haben, wo diese aber so seltsam ... wie soll ich sagen ... unpersönlich? herzlos? anonym? ... geworden waren. Und wo es plötzlich einen Arzt gab, der nie mehr darüber nachdenken mußte, ob er einen Patienten abrechnete ... oder nicht. 

Dieser Hausarzt, übrigens, ist mir natürlich auch am Sonntag in der Kirche begegnet, das erwähne ich jetzt doch noch. Wir kannten ihn, und er kannte uns. Bei welcher Gelegenheit mir auch einfällt, daß in dieser meiner Kindheit in den 1960er Jahren in dieser niederösterreichischen Kleinstadt Arzt und Katholik oder Gläubiger Synonyme waren. 

Was ich heute nahezu umgekehrt empfinde. Und alles das Erzählte steht für dieses eine Thema, die Veränderung, ja die Neuerfindung der Medizin.

_Demnächst Teil 2) Vom Kurpfuscher zum reichsten Mann der Welt - Von der Medizin zu einer Gesundheitsindustrie - Vom Akt der Nächstenliebe zum ökonomischen Betrieb