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Samstag, 23. April 2011

Nicht gelesene Lebenspost

Es ist ein schrecklicher Irrtum zu meinen, es wäre auch nur möglich, mit Photographie und Film die Welt "an sich" darzustellen, wie sie sei. In Wahrheit ist jedes Bild ein Interpretat, und ist jede noch so "gute" Dokumentation ein aus der normalen, ganzheitlichen Begegnung herausgenommenes, gefiltertes, geordnetes Bild eines Menschen, der damit etwas sagt, ob er es weiß oder nicht. Wobei die bewußte Absicht noch die harmlosere ist, denn sie ist meist leicht zu bemerken, sodaß man darauf reagieren kann.

Die Konsequenzen aus dem Gedanken, daß wir seit Jahrzehnten, und zunehmend, zunehmend in fast unerträglichem Ausmaß, nur noch mit Bildern von der Welt konfrontiert werden, die nicht menschengerecht sind, einer Welt die uns auf eine niemals nachvollziehbare Weise ganz anders begegnen würde - man denke nur an Einsichten, an chirurgische Blicke durch Zoom, durch Einstellungen, durch technische Raffinessen, durch Nachbearbeitungen, etc. - raubt einem fast den Atem.

Goethe hat sich geweigert, ein Fernrohr zu benutzen, ja nicht einmal eine Brille wollte er. Alles, was keinen menschengerechten Blick auf die Welt ermöglicht, war ihm zu gefährlich, um eine inadäquate Sicht aufzubauen. Er wollte nicht daß die Gestalten des Lebens ihn verfehlen bzw. er sie verfehlt.

Heute ist das Leben für die meisten Menschen Europas zu einem riesigen Berg am Postamt wartender, nicht abgeholter, nie gelesener, und deshalb nicht beantworteter Briefe geworden, während sie zuhause vor ihren Bildschirmen sitzen und warten, daß es sich per E-Mail meldet. Denn "dann", dann geht es los.

Unsere Weltanschauungen sind zu einem Konglomerat irrelevanter Informationen aus unzulässigen, nicht menschengerechten, nicht uns gerechten Ein- und Ansichten geworden. Während wir die Fähigkeit, die Gestalten des Lebens zu lesen, das, woraus es eigentlich besteht, ja, das woraus die Welt an sich besteht - aus Gestalten, nicht aus Teilinformationen, es sind die ganzen Einheiten, zwischen denen sich alles abspielt! - verloren haben.


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