"Was bedeutet es, wenn in der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, wo das Original von der Simulation immer weniger unterscheidbar ist, die Authentizität des Originals eine geradezu magische Bedeutung gewinnt, eine Bedeutung, die nur mit der der "Gültigkeit" von Sakramenten vergleichbar ist? Diese Gültigkeit beruht ja auf der sinnlichen Realität einer Berührung, die auf der lückenlosen Folge von Handauflegen bis hin zum Stifter beruht. Die Authentizität dieses Stückes Leinwand beruht auf der originalen Berührung durch diesen Künstler.
Bei der zu Osterhasen umgeschmolzenen Kaiserkrone von Beuys hängt alles daran, daß sich diese Geschichte wirklich zugetragen hat. Denn ansehen kann man sie dem Hasen nicht. In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst die Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat.
Bei dem verchromten Stab von ca. 1000 m Länge, den Walter de Maria anläßlich einer Kasseler Documenta in die Erde versenkt hat, sieht man die Schnittfläche des Stabes, eine kleine silberne Scheibe auf dem Boden. Das andere sieht man nicht, wie in dem Claudius-Gedicht: "Seht ihr den Mond dort stehen? -/Er ist nur halb zu sehen/und ist doch rund und schön./So sind wohl manche Sachen,/die wir getrost belachen,/weil uns're Augen sie nicht sehn."
Nicht was man sieht, ist das Wesentliche, sondern worauf es ankommt, ist, von der Wirklichkeit des versenkten Stabes zu WISSEN, die durch diese kleine Scheibe repräsentiert wird. [...] Die Kunst macht etwas unsichtbar, damit es als wirklich erinnert wird. In einer virtuellen Welt, einer Fassadenwelt, übernimmt sie es, die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen. Denn nur als unsichtbare ist die Wirklichkeit unzerstörbar."
Robert Spaemann, in "Wirklichkeit als Anthropomorphismus"
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