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Dienstag, 20. November 2012

Die Konsequenzen

Einen sehr wichtigen Gedanken kann man aus dem (an sich eher durch Verwaschenheit glänzenden) Interview mit dem Religionssoziologen José Casanova im "The European" herausschälen. Casanova meint nämlich, daß die strikte Trennung von Religion und bürgerlicher Existenz eine spezifisch europäische Idee sei, aber in Europa eine genuin christliche Konstruktion bewahrt habe. 

Das habe dazu geführt, daß es ein Europa zu einer Zweiteilung der Identitäten kommt, anders als in den USA. Eine ähnliche Differenzierung habe ja schon mit der Scheidelinie zwischen Protestantismus und Katholizismus seit dem 16. Jhd. eingesetzt.

Obwohl sich beide Demokratien zu denselben Prinzipien - Freiheit, Gleichheit, Glücksstreben - bekennen. Ideen, die sich längst globalisiert haben, so gut wir überall auf der Welt zum Maßstab wurden. 

Diese selbstverständlichen Wahrheiten – Freiheit, Gleichheit und das Streben nach Glück – wurden das erste Mal in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergeschrieben. Heute erleben wir die Globalisierung dieser Ideen. Egal wo, niemand ist heute gegen Freiheit und Gleichheit. Alles ist eine Frage der Interpretation, denn selbst totalitäre Regime nennen sich heute „Volksrepublik“ und Sie werden Frauen finden, die sagen, der Islam sei die beste Religion, weil er die Gleichstellung der Frauen schütze.

Seit 15 Jahren sei aber in Europa zu beobachten, daß sich zunehmend deutlich bürgerliche und religiöse Identität gegenüberstehen, die nicht mehr vereinbar sein könnten.

Nur hier sei ein Migrant nicht mehr "Türke" oder "Jordanier", sondern Muslim. Die Migranten erlebten ihre Identität fragmentiert und in Frage gestellt, auf die religiöse Frage zugespitzt. Das habe auch Auswirkungen auf das Christentum selbst. Weil sich die Menschen auch religiös in Identitäten definierten. Was sich auf den Islam nicht unbedingt vorteilhaft ausgewirkt habe, denn in Europa sei ein Islam entstanden, den es in dieser Form gar nie gab, so Casanova.

Der Weg einer Lösung sei eher in Ländern wie den USA oder Indien zu beobachten. Wo jede Religion gleichberechtigt auch ihre staatlich garantierten Festtage habe. Auch Europa werde das nicht vermeiden können.

Mit anderen Worten, vom Verfasser dieses Blog interpretiert: Es sei schon zu spät darüber nachzudenken, ob Europa überhaupt den Islam integrieren wolle, während es längst Bürger dieser Religionsbekenntnisse integriert HAT. Wer Bürger anderer Religionen integrieren möchte, muß auch eine spezifisch religiös geprägte Staatsordnung aufgeben bzw. pluralistisch gestalten. Der Staat selbst darf sich nicht mehr mit einer Religion identitifizieren, er muß sich restlos säkularisieren. Was deshalb möglich scheint, weil das säkulare Werteempfinden der Menschen global und quer durch alle Religionen ohnehin längst gleich ist: auf der Grundlage der Werte der amerikanischen und französischen Revolutionen. Wenn das nicht geschieht, provoziert man eine religiöse - keine zivilbürgerliche - Auseinandersetzung. 

Casanova beklagt also die gegebene Verbindung von Lebensweise mit religiösen Wurzeln, die in immer noch Europa stärker präsent ist, wie anderswo. Die Vorentscheidungen, diese Verbindung weiter aufzulösen, seien aber längst getroffen - durch reale Fakten (sprich: den Folgen der Konzepte des Multikulturalismus, Anm.). Während einerseits sich der Staat völlig neutralisieren muß, muß Europa den Bevölkerungsanteilen mit zuvor fremden Bekenntnissen gleichberechtigt mit allen übrigen eine "individualisierte" Form der Religiösität ermöglichen, die gleichermaßen öffentlich sein können muß. Anders als durch offiziellen religiösen Pluralismus wird es nach Meinung des Religionssoziologen zu keiner friedlichen Integration kommen können.

Was derzeit zu beobachten ist, so der Verfasser dieses Blog, ist nicht das Aufbrechen von Konflikten, sondern das Aufwachen als Gewahrwerden von längst geschaffenen Konflikten. Wo Europa vor der Wahl steht, diese Konflikte aufzunehmen und tatsächlich auszufechten, oder sich selbst noch weiter zu "neutralisieren", Kultur nicht mehr mit Staat zu identifizieren. Was nicht weniger heißt als die spezifisch abendländische Lebensweise (die tief im Denken über Wesen und Wirklichkeit der Welt verankert ist), die auf eine Kultur abzielt bzw. von einer Kultur (und damit von allen Staatsformen etc.) nicht trennbar ist, zu verabschieden. 

Denn was Casanova nicht anspricht ist, daß die USA eine von einer dünnen Haut überzogene Sammelfrucht von Parallelgesellschaften ist. Möglicherweise ist das in Indien nicht anders, trifft dort aber auf eine religiöse Prägung, die dieser Haltung viel näher steht. Der Staat beschränkt sich in den USA darauf, diese dünne Haut zu sein. Das aber erinnert immerhin an "Reichskonzepte" - Washington wird nicht zufällig auch als "5. Rom" bezeichnet.

Alles klar? Nun, viel klarer läßt sich die Widersprüchlichkeit des Liberalismus nicht erfassen.





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