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Dienstag, 13. November 2012

Patientenverfügung - die Zukunft

Der Bericht in der FAZ, der einen in der Phantasie aus gegenwärtigen Ansätzen extrahierten Vorausblick ins Jahr 2030 wirft, läßt einem die Gänsehaut auflaufen. Oder wer dachte daran, daß das Einsetzen (nicht: das Verweigern!) lebenserhaltender Maßnahmen ... als Körperverletzung gewertet werden könnte? Wer denkt daran, daß die Selektion bereits geborener. aber behinderter Kinder (wie schon 2012 in den Benelux-Ländern erlaubt) als Freibrief zur Verweigerung ärztlicher Versorgung dienen könnte, weil ein Leben unter solchen Umständen "nicht im Willen des Kindes" liegen könnte? (Schon jetzt ist in den Benelux-Ländern "Sterbehilfe" die häufigste Todesart.)

Wer sieht den schon jetzt vorhandenen psychosozialen Druck, der auf Alte, Kranke, Behinderte ausgeübt wird, denen ihre "akademisch gebildeten" Kinder und technisch perfekt ausgebildeten Ärzte mit Tabellen in den Händen erklären, wie man heute mit solchen Dingen umgeht - sehen Sie, hier, diese Lambdawerte, wenn wir jetzt ... dann wird sich ...? Wer denkt daran, daß die Krankenkassen, unter immer größerem Kostendruck (und wie der unter dem demographischen Druck, der noch gar nicht zu wirken begonnen hat, noch ansteigen wird, können wir derzeit nur rechnerisch, nicht in unserer Erfahrung vorauswerfen, nur mit Schaudern erahnen), beginnen, mit Rabatten zu winken, wenn eine Patientenverfügung erstellt wird, die im Ernstfall "medizinischer Indikation" überläßt, ob und was an lebensrettenden Maßnahmen durchgeführt wird? Träume? Schon 2012 hat die Sozialversicherung der Gewerblichen Wirtschaft in Österreich Rabatte in Aussicht gestellt, wenn man bestimmte medizinische Eckdaten "verbessern" kann - sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt ... ändern Sie Ihre Lebensweise, treiben Sie Sport, essen Sie vegetarisch, senken Sie den Blutdruck, die Cholesterinwerte.

Unterschreiben Sie Ihre Patientenverfügung, online und überall abrufbar, gespeichert auf Ihrer Medizincard.

Aber wir sehen sie, die Anverwandten, die Töchter und Söhne der Internetgesellschaft, die mit innerem Stolz des Narzißmus, über so viel Macht zu verfügen, "wichtige" Entscheidungen zu treffen, endlich jene Wichtigkeit (eingebettet in einen Kollektivwahn der Definition von "Wichtigkeit") haben, die ihnen in ihrem eigenen Leben längst fehlt, über Tod und Leben anderer zu entscheiden. Begriffe, leere Begriffe für sie, die ihren Erfahrungs- und Entscheidungsrahmen um Dimensionen übersteigen. Weil diese Begriffe grundsätzlich den Horizont des Menschen übersteigen, man kann dem Leben nur staunend und mit Ehrfurcht begegnen, wie es die Menschheit immer tat - als Kern jeder Religiosität.

Eitle, areligiöse Narzisse heissen heute aber Maßnahmen gut, von deren ontologischer Bedeutung, deren ethischer Relevanz sie nicht die geringste Ahnung haben, weil in diesem Entscheidungsprozeß nur noch meist sogar fragwürdige technische Fakten zählen, garniert mit unreflektierten Schlagworten der Massenbetäubung - "Schmerzvermeidung", "unwürdiges Leben" ... - oh ja, leiden, was wollen wir ja alle nicht, oder?

Die die üblichen Medikamente, mit denen der Patient zuvor lebte, "absetzen" lassen, woraufhin sein Organismus tatsächlich kollabiert, die künstliche Ernährung verweigern, "weil es ja sowieso bald aus sein wird", wie die Schwester verständnisvoll flüstert, und die Gegenwehr des im Todeskampf Liegenden mit schweren Drogen niederspritzen lassen, sodaß der seine letzten Lebensstunden in Rausch und völliger Apathie verbringt. Man will ihn ja nicht "unnötig" leiden lassen. Er hätte das sicher so gewollt. Das ist ja heute alles anders, viel fortschrittlicher, man sieht das heute alles anders. Mauserl, Du, den Türkeiurlaub nächste Woche hat mir das Reisebüro schon bestätigt, ich geh dann mal, sag mir, wenn sie gestorben ist, am Bestattungsinstitut ist alles arrangiert. Wird eine schöne Leich, wirst sehen. So würdig.



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