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Samstag, 3. November 2012

Der Neurotiker braucht Propaganda

Herausgelöst aus den durch natürliche Autoritäten und Abhängigkeiten bekennzeichnete Gemeinschaften - allen voran Familie - braucht, schreibt Jacques Ellul, der solcherart entstehende Charakter regelrecht Propaganda. Die sich natürlich nicht als solche ausgibt, die als bloße Information auftritt. auch ich kennzeichnend, daß der "Charakter der Propaganda" sich selbst lediglich für informiert, niemals aber für ein Opfer der Propaganda hält.

Aber der Mensch braucht "allgemeines", und solcherart ersetzt der fehlende Nahe, das dem individuellen Entscheidungshorizont in jeder Hinsicht entspricht, auch durch die konkrete Erfahrung der Vertrauenswürdigkeit, nun die "öffentliche Meinung", ob sie nun als "Gegenmeinung" auftritt, oder als "Regierungsmeinung". Ohne Medien wäre also dieses Spiel undenkbar. Reduziert auf die eigene Wahrnehmung, gezwungen seinen Weg durchs Leben zu finden, aus Kleinstem zum Größeren wachsend, würde der Mensch tatsächlich unempflindlich sein gegen solche Mechanismen.

Diese Charakterformung ist definitiv "neurotisch": ihr fehlt die fundamentale Erdung in der Wirklichkeit, sie ist deshalb auch nicht in der Lage, aus ihrem eigenen Horizont heraus Glaubwürdigkeiten größerer Angelegenheiten zu bewerten. Verkennen von wirklichen Problemen sind deshalb typisch. 

Der Propaganda-Charakter ist vielmehr auf Information aus zweiter Hand angewiesen, und sie gibt ihm - je  nach Druck und Rezeption - vor, was Probleme sind. Probleme, die in den meisten Fällen seinen Entscheidungshorizont bei weitem überschreiten, was der Betroffene natürlich nicht so sieht, denn er fühlt sich ja "gut informiert". 

Durch die Medien, durch die Parolen. In die hinein jene Emotionen gelegt werden (können), die den  Menschen erst bewegen. Hier setzt also auch die Bedeutung der "Gruppe" ein. Kein Mensch kann damit leben, "allen" alleine gegenüberzustehen.

Propaganda - als Persönlichkeitsdefekt - könnte also gar nicht wirken, wenn nicht der Bedarf danach bestünde. Denn der isolierte Mensch sieht sich den tiefsten Existenzängsten ohnmächtig ausgesetzt. Also braucht er die "Macht", die Welt zu bewältigen. Sie enthebt ihn (scheinbar) dieser Ängste. Und diese Macht findet er in der Gruppe bzw. der Gruppenmeinung. Diese Macht findet er in der Identifizierung mit "starken Persönlichkeiten", die "in seinem Sinn" handeln. Seine Hoffnungen und Wünsche erfüllen, umso mehr, als er sich ohnmächtig fühlt angesichts der Größe der Probleme ("Weltrettung" ...), mit der er konfrontiert ist. In dieser Gruppe findet er auch die Wege, sich zu verhalten, die als Methode zur "Reinheit" dienen, die Schlagworte, die die Welt "richtig" beleuchten, die Prioritäten der Problemlisten definieren. Und, wie gesagt, nie über "Lüge", sondern immer über Faktensicherheit.

Hier verliert er endlich alle Ängste, unrecht zu haben, die jeden der wirklich eigene Ansichten ausformt, ja nie verlassen. In diese Gruppe hinein kann er aufgehen, sie gibt ihm Sicherheit, Sinn und Identität, vor allem durch Verhalten, sie sagt ihm was es zu tun gilt. Auch dort, wo er sich abgrenzt, ja ausdrücklich gehört es zur Natur der Propagandasozialität, zur Kritik zu ermuntern - um sie genau eben zu integrieren. Sie bestärkt ihn in seinem Selbstsein, integriert ihn in jedem Fall sozial, und solidarisch.  Zugleich wächst seine Abhängigkeit von den "Parolen" der Gemeinschaft (oder des "Helden", der sie repräsentiert*), denn er entfremdet sich mehr und mehr von seiner eigenen Weltrezeption, ja die wird seinem Selbst bedrohlich, die Schwelle zum Selbststand wird immer höher.

Niemand glaubt dabei, daß er seine Meinung der Gruppe bzw. anderen auch verdanke - jeder glaubt, daß er selber den Weg zur Wahrheit gefunden habe. Aber plötzlich hat auch in jeder Zwischenmenschlichkeit sein Wort das Gewicht der Gruppe, der "Wahrheit", des Allgemeinen, und er denkt, er redet nicht mehr in seinen eigenen Sichtweisen - die verdrängt er zunehmend - sondern in den Worten und Logizismen dieser Gruppe. Hieraus bezieht er auch die Autorisierung zur Missionierung, ja in dem Maß, als er zum Sprachrohr der Gruppenmeinung mediatisiert wird, nein, sich selbst mediatisiert, steigt sein Selbstwert, als Repräsentant des Mächtigen, des Wahren, ja er WIRD zur Gruppe.**

Was Ellul rein aus Sicht der Propaganda schreibt, trifft haargenau auf jenen Charaktertypus zu, den Karen Horney als "neurotische Persönlichkeit" definiert hat.

Nur, wenn der Einzelne zur ureigensten Basis SEINER "Weltanschauung" zurückfinden kann, zu eben "seiner" Anschauung, auf der Basis seines Soseins, vermag er sich aus dieser Vermassung, aus diesem Verlust des eigentlichen Personseins als Persönlichkeit, wieder zu erheben. Ja, erst von hier aus vermag er überhaupt erst selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, auch übrigens: eine Glaubensentscheidung über das Nicht-Gewußte hin. Und es kann oft lange dauern, sich aus solchen Charakterstrukturen zu befreien. Hier aber erst greift wirklich keine Propaganda, im Horizont des Nächst-Begegnenden. Das in seinen Grundstrukturen ja die ganze Welt enthält. Sodaß das normale, erfahrene Menschsein genügt, um Plausibilitäten wirklich einschätzen zu können.





* Der "Starkult" steht also in direkter Entsprechung zum Persönlichkeitsverlust. Das betrifft in selbiger Weise auch den sogenannten "Papismus", ist eine latente, ja leider oft realisierte Gefahr auch innerhalb der Katholischen Kirche. Heiligkeit ist aber die höchstmögliche Form der Persönlichkeit!

**Auf die Persönlichkeitsproblematik, das Gehörte (und auch das Gelesene ist ja ein Gehörtes) NICHT als Eigenes auszuweisen, also noch in der Urheberschaft zu unterscheiden, wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen, und wird noch weiter eingegangen werden. Denn es bezeichnet ein Grundproblem des heutigen Menschen.



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