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Mittwoch, 14. November 2012

Rückgriff als avantgardistischer Akt

aus 2007) Interview aus "Der Standard" vom 25. 10. 2007


Frankfurt/Main - Diesen Freitag erhält Martin Mosebach in Darmstadt die wichtigste Auszeichnung des deutschen Literaturbetriebs. Sein jüngster Roman, Der Mond und das Mädchen, stand auf der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises: die Erzählung eines frischverheirateten Bürgerpaares, das in Frankfurter Hochsommernächten von seinen dunkleren Seiten überrascht wird. Für Diskussionsstoff sorgt seit Jahren sein Essayband zur Verteidigung der römischen Liturgie - Häresie der Formlosigkeit - in welchem er eine durch 1500 Jahre gewachsene Formsprache ihrem dürftigen modernen Ersatz gegenüberstellt, in einer brillanten Argumentation, die die Frage der Tradition weit über das Feld des kirchlichen Bereichs hinaus erörtert.

Standard / Cornelia Niedermeier: Die Heiligkeit der Tradition, schreiben Sie in "Häresie der Formlosigkeit", besteht in ihrer Dauer.

Mosebach: Die Tradition ist die Einbeziehung der Toten in das gegenwärtige Leben. Es gibt ein schönes Chesterton-Wort. Er nennt die Tradition eine Form der Demokratie, in der auch die Toten ihr Wort mitreden dürfen.

Standard: Sie trägt weiter von den Erfahrungen früherer Generationen, was sich als sinnvoll erwiesen hat?

Mosebach: Dass es sinnvoll ist, ist gar nicht der Maßstab. Einen utilitaristischen Maßstab an Tradition zu stellen, das wäre, glaube ich, ganz naiv. Es gibt so den Typus des Konservativen, der sagt: Wir bewahren das, was zu bewahren sinnvoll ist. Und wir erneuern das, was zu erneuern sinnvoll ist. Damit überliefert man die Tradition einem Augenblicks-urteil und einer utilitaristischen Rechtfertigung, vor der sie eigentlich nie so richtig bestehen kann. Tradition ist etwas Axiomatisches.

Standard: In Ihrem Roman "Das Beben" konfrontieren Sie zwei Formen, mit Tradition umzugehen: den indischen König, der, längst entthront, die jahrtausendealten Formen lebt und bewahrt, ein Jean-sans-Terre - und den deutschen Architekten, der alte Paläste zu pseudohistorisch kostümierten Luxushotels umbaut. Hotels, die Tradition vortäuschen, ...

Mosebach: ... die sie in Wahrheit sogar vernichten.

Was die Gegenüberstellung anbelangt: Ich schreibe ja keine Thesenromane. Sondern ich schildere Menschen. Dass sich in den Büchern dann Parallelstrukturen ergeben, Symmetrien, Gegenfiguren entstehen ... Das unterläuft mir. Leider. Weil mein Temperament mir das Chaotische einfach nicht gestattet. Obwohl ich das Chaotische, das Anarchische sehr schätze als ästhetische Äußerung.

Standard: Ist aber Anarchie nicht die Sprengung jeder Tradition? Die Auflösung traditioneller Form?

Mosebach: Wir können ja gar nichts wirklich ohne Tradition tun. Die Tradition beherrscht uns ja total. Ob wir dafür sind oder dagegen. Wir sind ja noch nicht in Retorten entstanden, sondern wir kommen von Eltern, die uns in einem bestimmten Milieu haben aufwachsen lassen und uns geprägt haben in einem Ausmaß, das man sich gar nicht stark genug vorstellen kann. Wir sind in einer bestimmten Region geboren, an bestimmte Speisen gewöhnt. All das konditioniert uns natürlich so stark, dass von echtem Sprengen dieser vielen Käfige, in denen wir stecken, sowieso fast nie die Rede sein kann. Unsere Anarchien haben etwas von Träumen. Die Träume, die aus dem, was wir erlebt und gesehen haben, bestehen und es dann aber ganz anders zusammensetzen.

Standard: Die realisierte Traumtat als anarchischer Impuls? Wo in der Kunst sehen Sie ihn verwirklicht?

Mosebach: Zum Beispiel bei Rabelais. Der hat es ja sehr stark mit Ordnungssystemen zu tun, die er dann absurd werden lässt. Er führt alle Ordnungssysteme in ein ungeheuer buntes, lebensvolles Chaos über, wobei er dann, ganz plötzlich, doch wieder bei der Tradition ankommt. Das ist ein eigentümliches Wechselspiel aus Befreiung und ganz bewusstem Ergreifen des Vorgegebenen.

Standard: Der Vorwurf, der der Tradition, etwa in der Kirche, heute begegnet, ist ja das Gegenteil: die Aushöhlung. Die Entleerung der Formen von ihrem Sinngehalt. Die tote Form wird von den Mächtigen oktroyiert und von den weniger Mächtigen gehorsam befolgt.

Mosebach: Aber eine tote Tradition ist immer noch besser als ein toter Individualismus. Den gibt es nämlich auch. Die meisten Leute sind der Traditionslosigkeit überhaupt nicht gewachsen. Es gibt einen schönen Satz von Dalì, der sagt, wer sich nicht der Tradition unterwirft, ist dazu verurteilt, Plagiate herzustellen. Weil wir uns sowieso wiederholen müssen. Wenn wir uns aber in der Tradition wiederholen, begehen wir einen bewussten Akt.

Standard: Wie Ikonenmaler ...

Mosebach: Zum Beispiel. Wohingegen wir ohne Tradition in Muster verfallen, die wir als solche nicht mehr erkennen. Dann machen wir Plagiate. Eine Kunst, die ihre Großeltern nicht mehr kennt und nicht mehr weiß, wie viel davon vor hundert Jahren schon gemacht worden ist.

Standard: Trotzdem steht die Frage der toten Tradition im Raum.

Mosebach: Traditionen müssen immer wieder neu angeeignet werden. Wir sprechen ja in Europa von Renaissancen. Die Tradition, die sich als Wiedergeburt versteht. Wir haben ja nicht nur eine Renaissance gehabt. Die erste Renaissance der klassischen Antike war bereits unter Augustus, dann kommen die verschiedenen Renaissancen des Mittelalters, dann die eigentlich so genannte Renaissance, dann jene des 17., des 19. Jahrhunderts. So gibt es immer wieder neue Aneignungen. In der Renaissance des 15. Jahrhunderts nannte man diesen Stil "antico", alt. Und der überwundene Stil, den man durch diese Renaissance beiseiteschieben wollte, der hieß "moderno". Das war die Gotik. So gibt es natürlich immer wieder Rückgriffe, die dann zugleich auch avantgardistische Leistungen sind. Die die Tradition mit etwas Gegenwärtigem füllen und sie zu etwas Gegenwärtigem machen.

Standard: Und damit verändern. Wie der Versuch der Wiederbelebung des griechischen Theaters in der Renaissance zur Oper geriet.

Mosebach: Vollkommen verändern. Aber nicht in der Absicht zu verändern. Das ist das Wichtige. Das Wichtige ist, dass die großen Innovationsleistungen gerade dort geschehen, wo das bewusste Ziel nur Nachahmung war. Das Schöpferische entsteht im toten Winkel. Da, wo der Künstler nicht hinguckt. Der Renaissancekünstler wollte nur die Alten erreichen. Dieser Eifer stand im Vordergrund. Die Tradition, das Überlieferte, wurde als etwas Vollkommenes, nicht Verbesserbares erlebt. Dort strebten sie hin. Und dann wurde etwas ganz anderes daraus. Etwas wirklich Neues. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.10.2007)


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