Es sind schwerwiegende Gedanken, die Rousseau in seinen Schriften über die Musik anspricht. Indem er die Entwicklung der Notenschrift (Notierung) analysiert.
Ausgehend vom Generalbaß - wo also nur eine Stimme notiert, aufgezeichnet wurde, auf der aufruhend sich nach und nach das freie, aber immer improvisierte Spiel der übrigen Stimmen darum herum flocht.
Notiert wurde eigentlich nur, so Rousseau, um jeweilige aus der geschichtlich-kulturellen Verfaßtheit auftretende Fehler zu verbessern, oder zu vermeiden. Das Spiel der Harmonie aber ergibt sich aus dem ästhetischen natürlichen Empfinden jedes Menschen von selber. Vorausgesetzt, er hat in sich die Tore zur dieser "Natur" geöffnet. Wozu zum einen viel Übung nötig ist, um zum anderen den individuellen Geschmack von Zufälligkeiten zu reinigen. Aber jeder Ton hat seine Harmonien insofern in sich, als sich jeder Akkord aus dem Melodieverlauf, aus der Zeiterstrecktheit einer Melodie ergibt. Denn Ton an sich gibt keine Aussage, keinen Sinn.
Das Übereinstimmen aber von Sinn und Ton ist - Melodie, Entfaltung der Töne in der Zeit. Akkorde setzen in die Gleichzeitigkeit, was die Melodie nur über die Zeit entfaltet. Darin muß - über das Hören also - der Musiker geschult sein. Um so die Aussage seiner Zeit zu erfassen, und sie (wie anders?) in der Melodie wiederzufinden. Denn jede Melodie ist Ausdruck der Stimmung der Zeit, die immer neu ist. Der Künstler muß sich also aus dem "Bekannten", auf dem alleine er aber nur aufsetzen kann, der Tradition, allmählich lösen. Das ist sein Selbstfindungsprozeß, sein eigentlicher künstlerischer Prozeß: das Finden der zeitgemäßen Melodie. Die zugleich immer ein Überschreiten des konventionellen Geschmacks bedeutet.
Aus dieser Allgemeinheit der Stimmung heraus, hat sich im Laufe der Zeit die Aufgabe des Komponisten selbst herausgebildet. Der in einer immer detaillierteren Notierung Feinheiten herausarbeitete, von denen er meinte, daß sie in der Interpretation übersehen oder nicht bewußt präsent wären. So hat sich Musikkultur aufgebaut und in immer rascherem Tempo entwickelt.
Mit einer neuen Aufgabe allerdings, die sich je neu stellt: Aus der Notierung heraus muß die Freiheit der Historizität, des Schöpferischen, das ja nur originär und original sein kann, neu herausgeschält werden. Das Alte muß also immer auch gut bekannt sein, ehe Neues werden kann.
In ihrer Geschichte hat sich die Musik freilich genau aus diesen Zusammenhängen - analog zu den Wissenschaften seit der Renaissance - zu einer Formallogik hin entwickelt. Die Technik gewann Oberhand. Wo neues Komponieren - man lese "Doktor Faustus" von Thomas Mann! - zunehmend zu einem logischen Ausfalten von technischen Formalprozessen wurde. So daß "Neues" nur noch hieß, noch nicht vorhandene technische Konstellationen zu finden, die Notierungstechnik auszureizen. Indem man die Logik der Tonschrift ausschöpfte, anstatt dem Hören der Zeitmelodie treu zu bleiben. Die wesenhafte künstlerische Hingabe wird aufgesogen von der Faszination technischer Konstruktion, der Technik selbst.
Mann spricht in seinem großartigen Dialog des Adrian Leverkühn mit dem Teufel die Konsequenz aus: Damit wird das Schöpferische, das dem Tonsetzer nun fehlt, zum dämonischen Akt. Denn das wirklich Neue kann sich der Mensch nicht geben. Es ist die demütige, stille Frucht eines geschenkhaften, hingebenden Hörens und Verarbeitens. Verfangen in der Logik, getrieben von einer bewußt gewordenen Sendung zum Schaffen aber fehlt dem Tonsetzer damit das Schöpferische. Und so wird es zum Willen zum "Neuen" - und hier bleibt nur noch die Dämonie. Denn auch und gerade der Teufel kann nichts "schaffen". Er kann nur Zwischenräume aufzeigen, die das bereits Geschaffene immer läßt. Tonschöpfung, Komponieren, wird somit zum Destruktionsakt der Melodie. Und darin wirklich zur Hervorbringung "des Künstlers selbst", der in dieser Dämonie gottgleich wird.
Die wirkliche Anbindung an das Schöpferische, das "Originäre", auf das sich Rousseau bezieht, ist aber eine nie machbare Frucht persönlicher Läuterung. Verliert eine Kultur ihr Leben, an dem sie ja nur teilhaben kann, verdämmern auch ihre Melodien. Sie verliert sie. Der Künstler "hört nichts" mehr. (Man beachte dabei: Beethovens Taubheit! Er stand an der Schwelle zum Tod der Musik. Ab nun herrschte zunehmend Blendwerk.) Während das Herausschälen aus den Tonschrift-Zwängen immer schwieriger wird, stürzt der Hörende ins Leere. Also klammert er sich an die Tontechnik, den Effekt, die kalkulierte Wirkung, ja es bleibt ihm nur noch Ironie, gar Zynismus, dem letzten Refugium, wo sich Schöpferisches noch (als Schatten, als Negativum wenigstens) aussagen, sich seiner selbst vergewissern, seinen Impuls am Leben halten kann. Sie soll ihn über dem Nichts halten - als aufrechte Sehnsucht an den Teufel, dem Fürsten des Nichts. Er hat Leverkühn nicht zufällig heimgesucht.* Die Person des Künstlers wird plötzlich entscheidend, nicht mehr sein Werk.
Zunehmend, folgt man den Analysen von Modris Eksteins, wurde deshalb im späten und schöpferisch bereits beachtlich unfruchtbaren 19. Jahrhundert (Goethe hatte sich ja auch längst von seiner Zeit abgewandt, zu wenig fand er noch die ursprünglichen schöpferischen Stimmen in ihr) die kalkulierte Publikumsreaktion, das Prozeßhafte, der Künstler selbst zum Bestandteil des künstlerischen Werks. Kunst wurde zum Event, zum gesellschaftlichen Ereignis, das Werk selber immer bedeutungsloser - Kunst wurde zur Virtualität des Erlebens, die Person des Künstlers, sein Sensationswert wurde entscheidend.
Und man besuchte Aufführungen "neuer" Komponisten, weil man mit dem Sensationswert des Künstlers rechnete, auf einen solchen regelrecht hoffte. Man besuchte die Darbietungen des Russischen Balletts von Diaghilev WEIL man einen Skandal erwarten durfte. Bei dem man dabei gewesen sein wollte. Paris als Herz Europas entschwand, in Wien und München kam es zur "Sezession", dem Auszug aus den traditionellen, in sich aber bereits abgestorbenen Gestalten, Kunst löste sich vom Werk. Die Zeit Berlins, Amerikas brach an. Das Kabarett, noch mehr aber die bloße Unterhaltung blühte auf, die doch nur Vorhandenes preßt und quetscht und aufzehrt, deshalb ihr Verglühen in immer höherer Anforderung ans Tempo selbst bewirkt.
Das 20. Jahrhundert begann in diesem Impuls, und er kennzeichnete es: aus dem Willen zum Neuen. Durch endgültige Zertrümmerung des Bekannten, stürzte man sich auf alles, was Bewegung verhieß, das Vorhandene ausquetschte, egal um welchen Preis, in Vorahnung des Endes.**
Die Frage bleibt, ob sich in einer Zeit wie heute künstlerisches Werk nicht bestenfalls noch als manieristisches, im Grunde sinnloses ästhetisches Konstrukt finden kann. Befreit von den dichten Schlingen der Zeit, gähnt eine schreckliche Leere. Als jene Melodie, die zum letzten Ton erstarrt seit hundert und mehr Jahren auf Weiterführung wartet, aber kein kulturelles Material mehr findet, mit dem sie sich im Werk vermählen könnte. Nur "Melodiehaftigkeit" alleine hieße ja nur wieder technisch umbrechen, was aber des inneren Gehalts bedürfte.
Wird damit Musik zum bloßen monotonen, gar nicht wirklich hörbaren Sphärenklang, der jeder Auflösung in der Welt - als Melodie, als Werk - entbehrt? Denn ohne Kultur kann es keine Musik geben.
*Man kann historisch plausibel nachvollziehbar die Komödie immer als Versuch sehen, einem Leichnam noch das letzte Leben abzugewinnen.
**Eksteins zeigt in "Solar Dance" anhand der in den 1920ern aufsehenerregenden Fälschergeschichte des Otto Wacker in Berlin die Veränderungen, die in der Kunstrezeption eingetreten waren: Der "Nichtskönner" (Hitler!) Wacker hatte zahlreiche so perfekt imitierte Bilder "von Van Gogh" verkauft, daß auch Experten kein qualitativer Unterschied aufgefallen wäre. Das einzige Kriterium der Unterscheidung von Fälscher und Künstler im Prozeß wurde - die Person. Man kaufte in der Weimarer Republik rauschhaft Van Gogh-Bilder als Symbole eines exzentrischen Malers, der zu Lebzeiten verworfen wurde und "gescheitert" war. Aber genau dieses sein Leben wurde nun in den Vordergrund gestellt, das "Starkonzept" geboren. Werk und Virtualität verschwammen bis zur Unkenntlichkeit. Das Bild als Kunstwerk, als Aussage an die Zeit, war bedeutungslos geworden. Van Goghs Rezeption hatte sich in dem Maß verändert, als seine Lebensgeschichte in den Vordergrund rückte - er wurde zum Helden seiner Zeit. Van Gogh hatte sich von der Religion zur Sprache der Kunst an sich gewandelt, in der nur noch (siehe: "der starre Ton", als letzte Erinnerung an die Quellen der Kunst) die "Sonne" (Hinweis: Swastika!) an die Quelle der Kunst erinnerte. Kunst selbst wurde zur neuen Religion, präsent in seinen Propheten, Vincent Van Gogh - Hitler. Seine Zerstörungswut wurde zur Identifikationsmarke des Zeitalters, Niederlage wurde zum Sieg erklärt. Der Inhalt der Welt wurde virtuell, eine Frage der "Information", abgelöst vom Ding an sich.
Man beachte, daß zeitgleich die "Liturgieexperimente" in Österreich (mit dem Zentrum Klosterneuburg) und Deutschland einsetzten, die in einer weitgehenden Auflösung der Liturgie nach 1970 ihre Verwirklichung fand - wo Inhalt, Heil, virtualisiert, das Werk selbst, die Liturgie, inhaltslos erklärt beziehungsweise gemacht wurde. Heute steht der Priester nur noch an einem Tisch, und deklamiert, was man angeblich erleben sollte, der Papst wird nur noch als "Star" rezipiert. Und "alle tun so" als würden sie das Virtuelle real erleben.
*231112*