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Montag, 9. April 2018

Charakteristik der Beziehung des Westens zu Rußland (4)

Teil 4) Ein Fazit aus Andeutungen




Das Verhältnis des europäischen Westens (mit seiner Teilmenge Nordamerika) zu Rußland ist im Rahmen des bereits in der Antike gemeinen Gefühls der Überlegenheit des Individualismus gegenüber den Massenmenschen des Ostens. Schon Aischylos mit seinen "Die Perser" macht 500 Jahre v. Chr. deutlich was Abendland heißt, und was es prägen sollte, indem er es mit den besiegten Persern vergleicht. Dieser Individualismus wird das nachrömische Europa zunehmend prägen. Aber er ist zugleich sein Todesprogramm, denn aus dieser geistigen Linie entwickelt sich fast notwendig die Überheblichkeit des Westens als "Söhne Gottes". Und zwar direkt, wörtlich verstanden. Es wird sich in den Protestantismen (darunter den Puritanismus) zur Vollgestalt eines messiasgleichen Sendungsgefühls entfalten, der die Welt wörtlich, fleischlich, ja als Ort des Himmels, als (in der Utopie zu verwirklichenden) Paradies und Garten Edens selbst sogar versteht.

Dem steht der eher kollektivistische Osten gegenüber, der je weiter südlich man ihn betrachtet umso mehr in Kollektivismus und Zentralstaat - mit einem gottgleichen Herrscher - fällt. Freilich durchdringen sich beide Aspekte auf fast möchte man sagen geheimnisvolle Weise, aber sie scheiden doch beide Seiten: den Osten wie den Westen. Umso mehr, als Rußland bis ins 15. Jahrhundert hinein (wie Wernadski sehr deutlich zeigt) defacto aus einer Volksschule des Kollektivismus und Anti-Individualismus kommt. Nicht zuletzt spielt dabei noch eine Rolle, daß aus der Diskussion um die Herkunft des Namens "Rus", der Slawen selbst damit, eine Abstammung aus dem südlichen Persien (gegen den Kaukasus zu) als wahrscheinlichere Variante anzunehmen ist. Damit gingen sie, folgt man den Spuren der Überlieferung, sogar auf einen der Söhne Noahs zurück, sind also Nachfahren Chams, des quasi Heiligen unter den Dreien. Von hier zum Wort vom "Heiligen Rußland" ist es nicht mehr weit.

Hier aber gibt es keinen Messias, hier wird er erwartet. Hier wird die Erlösungssehnsucht einer nur symbolisch verstandenen Welt zur Vollgestalt kommen, in der der Einzelne wenig gilt. Das bringt fast zwangsläufig ein "Gefälle" zwischen den Menschen des Ostens, der über viele viele Jahrhunderte die Unterdrückung als fast so etwas wie eine normale Lebensbedingung erfährt, und dem des Westens, der sich als Gott sieht, der jede Freiheit hat. 

Immer blickte entsprechend der Mensch des Ostens mit bewunderndem, fast sehnsüchtigem Blick nach dem Westen. Und mit den Zaren seit Peter d. Großen wurde das zum Entwicklungsprogramm Rußlands, das "der Osten" ist. Denn alles dazwischen lebt auch so: wie in Zwischenwelten, hier hingeneigt, dort hingesunken. Die Grundhaltung des östlichen und tief religiösen Menschen - denn die Rolle Gottes zur Bewältigung des Lebens ist viel existentieller als im Westen, der sich zunehmend sogar von Gott emanzipiert, ihn nicht mehr braucht - war also immer eine des bewundernden, fernen Blicks auf den Westen. So zu werden wie der Westen, das war in der russischen Geschichte sogar so klar Programm, daß man damit auch wieder und wieder, schon unter den Zaren, eine mehr soziale Politik immer wieder hintanstellte, um die durch zentralistische Erscheinungen doch technischer, konzentrierter zu erreichen scheinenden "Fortschritt in der Zivilisation" zu gewährleisten. 

Sogar unter Stalin ist an der Architektur bis hinein in die Konsumprodukte (Autos, Haushaltsgeräte ...) das westliche, vor allem dann das amerikanische Vorbild abzulesen, dem man nachstrebte. Der "Zuckerbäcker-Stil" der Stalin'schen Bauten ist ein Abbild der Wolkenkratzer New Yorks, die Designs der Fahrzeuge sind deutlich imitierte amerikanische Modelle.

Das ist die Grundhaltung der Russen historisch gesehen, und es wird sich wenig geändert haben. Denn Geschichte ist "zäh". 

Aber nie waren sie aggressiv auf Eroberung ausgerichtet. Dazu fehlte es ihnen seit je an Selbstbewußtsein, oder an Frechheit der Weltbehauptung. Und der fallweise auftretende Nationalismus versucht nur, genau das zu kompensieren. Die Russen haben sich selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nie als imperiale, stolze Macht präsentiert und gefeiert, sondern immer als Träger eines immensen Leides, deren Stärke darin lag und liegt, dieses Leid zu ertragen, durchzustehen. Darin sehen sie ihre Überlegenheit.

Mit dieser gewissen kindlichen Naivität gehen sie auch an den Westen heran. Sie bestreiten nicht, daß der Westen überlegen ist. Sie bestreiten nicht, daß der Westen ihnen voraus ist. Und immer war. Sie kennen nämlich ihren Platz. Und wollen nur eines: Anerkannt werden. Als Gleiche angesehen werden. Wenn der Westen so sein will wie Gott, so will der Osten so sein wie der Westen. Dessen zivilisatorische Errungenschaften den Russen wie funkelnde Spielzeuge erscheinen, die sie auch gerne hätten.

Ein Westen, der in seiner Ostpolitik diese Tatsachen kaum je gesehen hat. Denn dem Westen fehlt das einfache, kindliche Herz, um es so zu sagen. Er strotzt vor Hochmut. Rußland war ihm meist nur Material, Kanonenfutter, nützbare Masse.

Das ist dem Osten unbekannt. Und er blickt auch in seiner Religion, die ihm immer so viel wog, auf eine dementsprechend gleichlautende Erfahrung zurück. Was wir heute als orthodoxe Kirche sehen, und das eine Nachfolgerin der damaligen byzantinisch-katholischen Kirche ist (Moskau sieht sich als die direkte Nachfolgerin von Konstantinopel) ist vom Westen - Rom - wieder und wieder düpiert worden. So, wie ein Bruder den anderen austrottelt (und Gemeinheit mit Überlegenheit verwechselt), ist die Geschichte von Byzanz mit Rom eine lange Kette von Demütigungen und Ausnützungen. In der wieder und wieder die eine Seite ihren guten Willen zur Verfügung stellte, zu allem bereit war, während der Westen nicht aufhörte, das brutal auszunützen und für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Wer heute die Interviews mit Putin hört - sie finden sich auf diesen Seiten - muß kein "Putin-Versteher" oder gar mehr sein. Es genügt, um die russische Geschichte (mit der Geschichte ihrer katholischen Kirche) zu wissen um zu erkennen, daß Putin hier nichts erfinden muß und vermutlich auch tat. Sondern daß seine Erfahrung, die er auch ausdrückt, schon deshalb so plausibel wirkt, weil sie sich nahtlos in die geschichtlichen Erfahrungen Rußlands mit dem Westen (und Rom) eingliedert.

Rußland ist ein Bär, gewiß, ein Bär der zu beißen vermag. Aber wie dem Bären ist es Rußland wichtiger, daß die andere Seite glauben muß, daß er beißen würde. In dem Moment, in dem der Westen aber zeigt, daß er gewillt ist, die Russen als gleichberechtigt anzuerkennen, erfüllt er ihre jahrtausendealten Sehnsüchte und wird sofort auf einen Menschen treffen, der alles zu vergeben bereit ist. Und noch sein letztes Hemd verschenkt, um die Freundschaft - die eine Beziehung von Gleichen ist - zu beweisen.

Daß der Westen ihm das so hartnäckig verweigert, ist eine Form von seelischer Grausamkeit. In der ein präpotenter, überheblicher Westen einen Jolly braucht, an dem er sein Mütchen kühlen, den er für seine Interessen instrumentalisieren kann.

Diese Grundkonstellation der russischen Seele ist auch die Konstellation der orthodoxen Kirche. Die nicht zufällig hunderte Male während einer Liturgie das "Herr erbarme Dich!" ausstößt, weil sie um die Nichtswürdigkeit und Abhängigkeit des Menschen weiß. Die damit aber fast so etwas tut wie eine Seite aufzumachen, in die der Westen, der den Spruch um Erbarmen kaum noch kennt, zumindest diese unbedingte Hilfebedürftigkeit als schändlich und seinen Stolz verletzend ansieht, mit leuchtenden Augen seine Messer stößt, um wenigstens hier seine Überlegenheit bewiesen zu sehen. Denn er will die Unterwerfung Rußlands, er will, daß diese zu Kreuze kriechen - während die Russen nur hofften, Freunde - Gleiche unter Gleichen! - zu sein. 

Den Russen prinzipiell Aggressivität zu unterstellen ist aus dieser Warte eine Frechheit und noch mehr eine tiefe Ungerechtigkeit, die es nicht der Mühe wert findet, sich um Belege für ein Urteil etwa aus der Geschichte zu bemühen. Sie widerspricht nämlich der gesamten bekannten Geschichte dieses europäisch sein wollenden und DAMIT europäisch seienden Volkes, einerseits, und führt dessen Geschichte der Enttäuschung durch den Westen weiter, anderseits.

Nicht Putin müssen wir anders sehen, um den geht es überhaupt nicht. Wir müssen die Russen anders sehen. Nämlich so, wie sie prinzipiell sind. Und als solche sind sie zutiefst liebenswerte Seelen, auch wenn sie selbst kaum daran glauben. Die darin etwas Kindliches haben, das wir ganz behutsam anfassen müssen, weil es so wertvoll ist.

Kindliche Seelen, denen wir vom Westen viel Abbitte zu leisten haben, anstatt sie ungebrochen zu verleumden, wie Watschenmänner abzuwatschen, weil sie es staunend zulassen, die erst lernen müssen, zurückzuschlagen. Deren ungebrochene Gutmütigkeit uns also leuchtendes Vorbild an der Art sein müßte, wie der Mensch zu leben hätte.

Wenn der VdZ zum Abschluß eine Beobachtung einfügt, aus der er meint einen Grundsatz, wenn schon nicht ableiten, so doch bestätigen zu können, dann schließt sich darin endgültig der Bogen von der Auseinandersetzung mit dem filioque her, den er in den ersten Teilen dieser Artikelserie darzulegen versuchte. Er stellt fest, daß alle die, die von blindem Hochmut und Rationalismus geschlagen sind, Narzisse, nach den USA streben, den westlichen Lebensstil bevorzugen. Während alle jene, deren Leben leidgeprüft und entbehrungsreich, weil realistisch war, sich den Russen nahe fühlen.







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